Angebetete Frau Marquise Wie lange noch soll ich es ertragen, daß Sie mir so kühl gegenüberstehen, mich wie einen Fremden betrachten, der ich Ihnen mein ganzes Wesen preisgab?! Ich weiß gar wohl: ich spiele eine schlechte Figur zwischen Ihren glänzenden Gästen; zähneknirschend empfand ich den hohnvollen Blick, mit dem der Graf Chevreuse meine schlichte Uniform zu streifen pflegte; der Zorn schnürte mir die Kehle zusammen, wenn ich, Sie erwartend, vor der Porte du Roi auf- und niederging, und der Marschall Contades an Ihrer Seite vorbeigalloppierte, so daß der arme Fußgänger im Staub, den die Pferdehufe aufwirbelten, verschwand; und der Neid jagte mir kalte Schauer über den Rücken, sobald der Prinz Rohan sich Ihnen nahte, der nie ohne kostbare Blumen Ihre Schwelle überschritt, während ich daneben stand mit leeren Händen! Aber heißt es nicht, Sie beleidigen, wenn ich solche Gründe für Ihre Ungnade annehme? Habe ich überhaupt ein Recht, mich zu beklagen –, ich, der ich versprach, wunschlos Ihre Nähe zu suchen? Ach, Engel meines Lebens, ich bin nur ein Sterblicher, und bin jung, und habe noch nie geliebt Vermessene Gedanken, die ich niemals wagen würde, vor Ihrer Reinheit auszusprechen, lassen mich das Licht des Tages schamvoll
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/127&oldid=- (Version vom 31.7.2018)