alle sehr erhitzt, und da ich mir leider nicht
schmeicheln durfte, die roten Wangen und glänzenden
Augen auf meine Ankunft zurückführen
zu können, so vermutete ich in ihnen die Wirkung
einer allzu üppigen Tafel, die ich beschloß durch
Witz und Galanterie zu steigern und auszunützen.
Aber schon bei Tisch wurde ich eines Besseren
belehrt: meine Nachbarin, eine süße kleine Blondine,
erzählte mir, daß die jungen Stiftsfräuleins
schon seit Wochen um eine Umänderung
der Satzungen kämpften, die ihnen das – Wahlrecht
im Stiftskonzil vorenthielten. Je scherzhafter ich
die Sache nahm, desto mehr überschlug sich ihr
Vogelstimmchen. Clarisse, die mir gegenübersaß,
wurde von einer anderen streitbaren jungen Dame
in demselben Sinne aufgeklärt, und als wir uns am
Abend im Garten ergingen, erfuhr ich zu meinem
Erstaunen, daß die Prinzessin, trotz ihres Alters
und ihres Ranges als Äbtissin, auf der Seite der
Jugend steht.
„Wir sehen es lieber“, sagte sie, „die Fräuleins würden das Recht haben, innerhalb des Sitzungssaals zu streiten, als daß sie sich das Recht nehmen, vor geschlossener Türe zu intriguieren. Das erzieht zu jener Hintertreppenpolitik der Frauen, die das Verhängnis Frankreichs ist.“
Und nun entspann sich hinter den Klostermauern von Rémiremont eine politische Debatte, wie in den Gärten des Palais-Royal in Paris, nur
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/065&oldid=- (Version vom 31.7.2018)