Meine liebe Delphine. Ihr kleiner Brief, den ich als Beilage eines längeren Schreibens meiner Mutter hier vorfand, war mir sehr erfreulich, geht doch aus ihm hervor, daß Sie den Vorsatz gefaßt haben, die ängstliche Scheu mir gegenüber allmählich abzustreifen.
Ich brauche Ihnen nicht noch einmal zu versichern, daß ich sie weder durch mein von aller schuldigen Rücksicht getragenes Benehmen verdient habe, noch daß ich sie erwarten konnte, nachdem Sie mir als eine fröhliche, ja fast allzu kecke, junge Dame bekannt geworden waren. Ihre häufigen, trüben Stimmungen, Ihre Art, sich stundenlang in Ihren Gemächern einzuschließen, durch die Sie die Würde Ihrer Stellung gegenüber den Domestiken in unstatthafter Weise gefährden, weil Sie zu allerlei Vermutungen und Geklatsch den Anlaß gaben, habe ich bisher zu übersehen versucht, da ich ihre Ursache in der Trauer um Ihren verehrten Vater zu finden glaubte. Die Marquise Montjoie, die Herrin meines Hauses, darf sich jedoch auf die Dauer solchen Empfindungen eines kleinen Mädchens nicht hingeben. Ich wünschte, daß Sie darauf bedacht sein mögen, in Ihrem Benehmen mehr Haltung zu zeigen.
Durch eine Bemerkung in dem Briefe meiner
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. Albert Langen, München 1912, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/045&oldid=- (Version vom 31.7.2018)