Und nun diese Enttäuschung: der Freund, der sich als Verräter entpuppt, die Geliebte, die mich um seinetwillen verläßt!
Aber hoffen Sie nicht, daß ich Ihr flatterhaftes Herz so leicht freigebe. Eifersucht und Haß sollen mich lehren, meinen Rivalen empfindlich zu treffen.
Gnädigste Gräfin, Frau von Laroche teilte mir soeben mit, daß Sie leidend seien und wir Sie in den nächsten Wochen in Montbéliard nicht erwarten dürften. Das betrübt mich auf das tiefste. Die Stunden mit Ihnen, in denen es mir vergönnt war, die unbekannten Schätze der deutschen Dichtkunst vor Ihrer empfänglichen Seele auszubreiten, bildeten den Lichtpunkt in meinem verdüsterten Dasein.
Gestatten Sie mir, Ihnen heute ein französisches Werk zuzusenden, das zu dem schönsten und erhabensten gehört, was die französische Literatur hervorgebracht hat: Die Neue Heloise von Jean Jacques Rousseau, jenem vielverkannten Dichter, von dem ich Ihnen schon oft erzählt habe. Seine Lektüre stellt an Ihr Gefühl und an Ihren Verstand gleich hohe Anforderungen, aber ich glaube, Sie werden ihnen gewachsen sein. Ich möchte nicht verfehlen, Ihnen mitzuteilen,
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/013&oldid=- (Version vom 31.7.2018)