Carl Hau: Das Todesurteil. Die Geschichte meines Prozesses. | |
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Die Untersuchung war inzwischen abgeschlossen worden, das Hauptverfahren wurde eröffnet und die Anklageschrift mir zugestellt. Ich las sie mit Staunen. Das Bild, das der Staatsanwalt darin von mir entwarf, war derart verzerrt, daß es mich geradezu lächerlich anmutete. So ein moralisches Monstrum hatte überhaupt noch nie gelebt, war gar nicht lebensfähig. Er hätte den alten griechischen Spruch beherzigen sollen, daß es nichts ganz und gar Schlechtes und nichts ganz und gar Gutes gibt, sondern nur eine gewisse Mischung von beiden. Gleich einem minderwertigen Dramatiker hatte er einen Charakter gezeichnet, der mit seiner vollkommenen Schlechtigkeit durchaus unglaubwürdig wirkte. Und daß ein solcher Charakter fünfundzwanzig Jahre lang von aller Welt verkannt worden war, bis der Herr Staatsanwalt ihn in das richtige Licht setzte, war auch kaum glaublich. Die natürliche Logik in der Sache wäre diese gewesen: ein Mensch, der solange von allen, die ihn kannten, für einen leidlich guten Menschen gehalten wurde, kann nicht auf einmal, ohne plausibles Motiv, eine solche Tat begangen haben. Die Logik des Herrn Staatsanwalts dagegen war: er hat den Raubmord begangen; ergo ist er ein schlechter Mensch und muß immer ein schlechter Mensch gewesen sein.
Aber nicht nur mannigfache Entstellung von Tatsachen enthielt die Anklageschrift, sondern auch direkte Unwahrheiten, schwere Beleidigungen, die indessen der Herr Staatsanwalt ruhig riskieren konnte, da ja alle seine Äußerungen privilegiert waren. Das Dokument
Carl Hau: Das Todesurteil. Die Geschichte meines Prozesses.. Ullstein, Berlin 1925, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Das_Todesurteil_(Hau).djvu/98&oldid=- (Version vom 31.7.2018)