ist demnach: wer von uns ein Trinkgeld erhalten will, muss uns aufsuchen, wir suchen ihn nicht auf – der sociale Zwang zur Gewährung eines Trinkgeldes ist an das persönliche Begegnen, die unmittelbare Berührung geknüpft, es ist lediglich die Situation, die es uns abnöthigt.
Nicht also das Werthverhältniss der Leistung an sich ist es, welches das Trinkgeld erzielt, sondern der reine Zufall der persönlichen Berührung, in manchen Fällen sogar nichts als letztere ohne alle und jede reale Leistung. Von dem Dienstpersonal haben der Hausknecht und der uns bei Tisch oder auf unserem Zimmer bedienende Kellner in der That etwas für uns gethan, der Oberkellner dagegen, dem wir die Rechnung berichtigen, nicht das Mindeste, er nimmt bloss unser Geld entgegen, ebenso wie der Kassenbeamte oder die Kassirerin in grossen Geschäften. Letzteren müssten wir, wenn wir consequent sein wollten, ebenfalls ein Trinkgeld anbieten. In Städten, wo es in Restaurationen und Kaffeehäusern eigene Zahlkellner giebt, wie z. B. in Wien, und wo daneben ein Trinkgeld an den aufwartenden Kellner nicht üblich ist, steckt mithin derjenige, der nichts für uns gethan hat, ein Trinkgeld in die Tasche, das, wenn es überhaupt gegeben werden soll, demjenigen gebührt, der uns wirklich bedient hat. Die letztere Erwägung oder richtiger die falsche Scheu, im Trinkgeldergeben ja nicht zu
Rudolf von Jhering: Das Trinkgeld. Georg Westermann, Braunschweig 1882, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Trinkgeld.pdf/19&oldid=- (Version vom 31.7.2018)