Hendrik Antoon Lorentz: Das Relativitätsprinzip und seine Anwendung auf einige besondere physikalische Erscheinungen | |
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der Bewegung von selbst einstellt. Hierzu hat Poincaré folgende Hypothese gemacht. Das Elektron ist eine geladene ausdehnbare Haut, und den elektrischen Abstoßungen der einzelnen Punkte widersetzt sich eine innere Normalspannung von unveränderlicher Größe. In der Tat genügen nach obigem solche Normalspannungen dem Relativitätsprinzip.
In derselben Weise müssen alle innerhalb der ponderablen Materie wirksamen Molekularkräfte, ebenso die auf die Elektronen wirkenden quasi-elastischen und Widerstandskräfte, bestimmten Bedingungen genügen, um mit dem Relativitätsprinzip im Einklang zu sein. Dann wird jeder bewegte Körper für einen mitbewegten Beobachter unverändert sein, für einen ruhenden aber eine Veränderung der Dimensionen erfahren, die eben eine Folge der durch jene Bedingungen geforderten Änderung der Molekularkräfte ist. Hieraus ergibt sich auch von selbst jene Verkürzung der Körper, welche schon früher erdacht wurde zur Erklärung des negativen Ausfalls des Michelsonschen Interferenzversuches und aller ähnlichen Versuche, die einen Einfluß der Erdbewegung auf optische Erscheinungen feststellen sollten.
Was den starren Körper anlangt, mit dem sich Born, Herglotz, F. Noether, Levi-Cività beschäftigt haben, so werden die bei der Betrachtung der Rotationen auftretenden Schwierigkeiten wohl dadurch zu heben sein, daß man die Starrheit der Wirksamkeit besonders intensiver Molekularkräfte zuschreibt.
Schließlich wollen wir uns der Gravitation zuwenden. Das Relativitätsprinzip erfordert eine Abänderung des Newtonschen Gesetzes, vor allem eine Fortpflanzung der Wirkung mit Lichtgeschwindigkeit. Die Möglichkeit einer endlichen Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Schwerkraft ist schon von Laplace diskutiert worden, der sich als Ursache der Schwerkraft ein gegen die Sonne strömendes Fluidum dachte, das die Planeten gegen die Sonne drückt. Er fand, daß die Geschwindigkeit dieses Fluidums wenigstens 100 Millionen mal größer als die des Lichtes angenommen werden müsse, damit die Rechnung mit den astronomischen Beobachtungen im Einklang bleibt. Die Notwendigkeit eines so großen Wertes von rührt daher, daß in seinen Endformeln die Größe in der ersten Potenz auftritt, wo die Planetengeschwindigkeit ist. Soll nun aber die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Schwerkraft den Wert der Lichtgeschwindigkeit haben, wie es das Relativitätsprinzip fordert, so kann ein Widerspruch mit den Beobachtungen nur dann vermieden werden, wenn in dem Ausdruck für das modifizierte Gravitationsgesetz nur Größen zweiter (und höherer) Ordnung in auftreten.
Beschränkt man sich auf Größen zweiter Ordnung, so läßt sich leicht auf Grund einer naheliegenden elektronentheoretischen Analogie eine Bedingung angeben, die das abgeänderte Gesetz in eindeutiger Weise festlegt.
Hendrik Antoon Lorentz: Das Relativitätsprinzip und seine Anwendung auf einige besondere physikalische Erscheinungen. B. G. Teubner, Leipzig und Berlin 1913, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Relativit%C3%A4tsprinzip_und_seine_Anwendung.djvu/6&oldid=- (Version vom 31.7.2018)