Mit Hilfe dieser Maße scheint nunmehr eine absolut genaue Beschreibung mindestens der mechanischen Naturerscheinungen möglich; doch sind noch keineswegs alle Schwierigkeiten beseitigt.
Wer hätte nicht schon in seiner frühesten Jugend zum Himmel aufblickend sich gefragt, wohin wird man gelangen, wenn man in gerader Richtung immer weiter emporsteigt?
Wir sehen die Welt erfüllt von etwa 35 Millionen Sternen, meist kugelförmiger Körper, die einen nahe kugelförmigen Raum von etwa 60 Trillionen Meter Radius erfüllen. Was kommt außerhalb dieses Raumes? Die Erde ist gar nicht fest in dem unfaßbaren Weltraum, sie bewegt sich um die Sonne und mit dieser wahrscheinlich um einen größeren und entfernteren Körper. Oder bewegt sich vielleicht das ganze Sonnensystem in gerader Richtung im Weltraum? Wie sollen wir diese absolute Bewegung feststellen, wo ist ein ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht, wie verschaffen wir uns feste Richtungen im leeren Raum?
Ein Achsensystem, auf welches wir die Bewegungen beziehen können, ist leicht beschafft. Es bereitet keine Schwierigkeit, unsere eigene Person unendlich lang und dünn ausgestreckt zu denken zu einer Achse; die beiden Arme rechtwinklig zueinander und zu dieser Achse ausgestreckt und unendlich verlängert geben die beiden anderen Achsen des nötigen Bezugsystems. Aber dieses ruht nur scheinbar, d. h. relativ zur Erde, in Wirklichkeit wandert es im Raum mit der Erde fort und rotiert sogar mit der Erde um deren Achse, die nicht einmal ganz feste Richtung relativ zur Sternenwelt behält.
Nun lehrt unsere Galileische Bewegungsgleichung eine Beziehung zwischen Kraft und Beschleunigung, d. h. Änderung der Geschwindigkeit pro Sekunde, wobei Geschwindigkeit der in einer Sekunde zurückgelegte Weg ist. Wir können aber die wirklich von einem Körper zurückgelegten Wege gar nicht messen, es fehlt ja ein fester Punkt und ein festes Bezugssystem zur Messung absoluter Bewegung. Die Erde, auf welcher unser bewegliches Bezugssystem angebracht ist, schießt mit einer Geschwindigkeit von rund 30000 Metern pro Sekunde relativ zur Sonne durch den Weltraum, d. h. 30mal so schnell als die schnellste Kanonenkugel, ganz abgesehen von ihrer Rotation. Sollte sich
Otto Lehmann: Das Relativitätsprinzip der neue Fundamentalsatz der Physik. Verhandlungen des Naturwissenschaftlichen Vereins in Karlsruhe, Bd. 23 (1909-1910), Karlsruhe 1911, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Relativit%C3%A4tsprinzip_(Lehmann).djvu/5&oldid=- (Version vom 10.8.2024)