Ägyptens zurückzukehren; wohl wissen wir, daß um der Ordnung und der Erziehung willen äußere Gemeinschaften entstehen müssen; wir wollen sie gerne pflegen, soweit sie ihre Zwecke erfüllen und der Pflege wert sind; aber unser Herz hängen wir nicht an sie; denn sie bestehen heute noch, können aber morgen unter anderen politischen oder sozialen Bedingungen neuen Gebilden Platz machen; wer eine solche ‚Kirche‘ hat, der habe sie, als hätte er sie nicht; unsere Kirche ist nicht die Partikularkirche, in der wir stehen, sondern die societas fidei, die ihre Glieder überall hat, auch unter den Griechen und Römern. Das ist die evangelische Antwort auf den Vorwurf der ‚Zersplitterung‘, und das ist die Sprache der Freiheit, die uns geschenkt ist.“ – Kehren wir nach diesen Exkursen zur Darstellung der wesentlichen Züge des Protestantismus zurück.
2. Der Protestantismus ist nicht nur Reformation, sondern auch Revolution gewesen. Rechtlich betrachtet, durfte das ganze Kirchenwesen, gegen das Luther sich auflehnte, vollen Gehorsam beanspruchen. Es war so gut gültige Rechtsordnung im Abendland wie die Gesetze des Staats. Als Luther die päpstliche Bannbulle verbrannte, vollzog er unzweifelhaft einen revolutionären Akt – revolutionär nicht in dem schlimmen Sinn, in welchem es sich um die Auflehnung gegen eine Rechtsordnung handelt, die zugleich sittliche Ordnung ist, wohl aber im Sinne eines gewaltsamen Bruchs mit einem gegebenen Rechtszustande. Gegen einen solchen wandte sich die neue Bewegung, und zwar erstreckte sich ihr Protest in Wort und That auf folgende Hauptpunkte.
Erstlich, sie protestierte gegen das ganze hierarchische und priesterliche Kirchensystem, verlangte, daß das abgeschafft werden solle, und schaffte es ab zu Gunsten des allgemeinen Priestertums und einer aus der Gemeinde sich herausbildenden Ordnung. Welche Tragweite diese Forderung hatte und wie sehr sie in alle bisher bestehenden Verhältnisse eingriff, das läßt sich nicht in wenigen Zügen sagen. Man brauchte Stunden dazu, um das auszuführen. Wie sich die Ordnungen thatsächlich in den evangelischen Kirchen nun gestaltet haben, das läßt sich ebenfalls hier nicht darstellen. Es ist auch nicht von prinzipieller Bedeutung; von prinzipieller Bedeutung aber ist, daß das „göttliche“ Kirchenrecht abgethan wurde.
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/177&oldid=- (Version vom 30.6.2018)