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Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/152

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Eben die Vergottung, welche man von der Zukunft erwartet und die an sich etwas Unbeschreibliches und Unfaßliches ist, wird schon jetzt wie ein Angelt durch Weihehandlungen appliziert. Die Erregung der Phantasie und Stimmung ist die Disposition für ihren Empfang und die Steigerung jener Erregung das Siegel desselben.

So empfinden es die griechisch-katholischen Christen. Der Verkehr mit Gott vollzieht sich durch einen Mysterienkultus, durch hunderte von kleineren und größeren wirksamen Formeln, Zeichen, Bildern und Weihehandlungen, die, wenn sie pünktlich und gehorsam beobachtet worden, göttliche Gnade mitteilen und auf das ewige Leben vorbereiten. Auch die Lehre als solche bleibt wesentlich unbekannt: in liturgischen Sprüchen tritt sie allein in die Erscheinung. Für neunundneunzig Prozent dieser Christen ist die Religion nur als Zeremonienritual vorhanden und in ihm veräußerlicht. Aber auch für die geistig geförderten Christen sind alle diese Weihehandlungen schlechthin notwendig; denn die Lehre erhält nur in ihnen die rechte Anwendung und den rechten Erfolg.

Nichts ist trauriger zu sehen als diese Umwandlung der christlichen Religion aus einem Gottesdienst im Geist und in der Wahrheit zu einem Gottesdienst der Zeichen, Formeln und Idole! Man braucht gar nicht bis zu den religiös und intellektuell völlig verwahrlosten Gliedern dieser Christenheit, zu Kopten und Abessyniern herunterzusteigen, um diese Entwicklung schaudernd zu erkennen – auch bei Syrern, Griechen und Russen steht es im ganzen nur um weniges besser. Wo aber ist in der Verkündigung Jesu auch nur eine Spur davon zu finden, daß man religiöse Weihen als geheimnisvolle Applikationen über sich ergehen lassen soll, daß man ein Ritual pünktlich befolgen, Bilder aufstellen und Sprüche und Formeln in vorgeschriebener Weise murmeln soll? Um diese Art von Religion aufzulösen, hat sich Jesus Christus ans Kreuz schlagen lassen; nun ist sie unter seinem Namen und seiner Autorität wieder aufgerichtet! Die „Mystagogie“ ist nicht nur neben die „Mathesis“ (die Lehre) getreten, durch welche sie ja hervorgerufen ist, sondern in Wahrheit ist die „Lehre“ – wie sie auch beschaffen sein mag, sie ist doch ein geistiges Element – in den Boden gesunken, und die Zeremonie beherrscht alles. Damit ist der Rückfall in die antike Form der Religion niederster Ordnung bezeichnet; der Ritualismus hat auf dem weiten Boden der griechisch-orientalischen Christenheit die geistige Religion nahezu erstickt. Sie

Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 148. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/152&oldid=- (Version vom 30.6.2018)