selbst aber waren sie die furchtbarste Gefahr. Das zweite Jahrhundert ist das Jahrhundert der Religionsmischung, der Theokrasie, wie kein anderes vor ihm. In diese sollte das Christentum als ein Element neben anderen, wenn auch als das wichtigste, hineingezogen werden. Jener „Hellenismus“, der das versuchte, hatte bereits alle Mysterien, die orientalische Kultweisheit, das Sublimste und das Absurdeste, an sich gezogen und es durch das nie versagende Mittel der philosophischen, d. h. der allegorischen Deutung in ein schimmerndes Gewebe versponnen. Nun stürzte er sich – man muß sich so ausdrücken – auf die christliche Verkündigung. Er wurde von ihrer Erhabenheit ergriffen; er beugte sich vor Jesus Christus als dem Weltheilande; er bot dieser Predigt alles zum Geschenke an, was er besaß, alle Schätze seiner Kultur und seiner Weisheit; aber gelten lassen sollte sie es. Als die Herrscherin sollte sie einziehen in eine fertige Welt- und Religionslehre, in die Mysterien, die für sie bereitet waren. Welch ein Beweis für den Eindruck, den diese Predigt gemacht hat, und welch eine Versuchung! Dieser „Gnosticismus“ – so nennt man die Bewegung –, in einer Fülle von Religionsexperimenten lebendig, etablierte sich unter dem Namen Christi, empfand auch manche christliche Gedanken kraftvoll und nachhaltig, suchte das noch Ungestaltete zu gestalten, das äußerlich Unfertige abzuschließen und den ganzen Strom der christlichen Bewegung in sein Bett zu lenken. Die Mehrzahl der Gläubigen, von ihren Bischöfen geleitet, ging auf diese Verlockungen nicht ein, sondern nahm den Kampf mit ihnen auf, überzeugt, daß hier eine dämonische Versuchung laure. Kämpfen aber hieß in diesem Falle sich abschließen, d. h. die Grenzen des Christlichen mit fester Hand ziehen und alles, was sich nicht in ihnen halten wollte, für heidnisch erklären. Der Kampf mit dem Gnosticismus hat die Kirche genötigt, ihre Lehre, ihren Kultus und ihre Disziplin in feste Formen und Gesetze zu fassen und jeden auszuschließen, der ihnen nicht Gehorsam leistete. Überzeugt, daß sie überall nur das Überlieferte konserviere und schätze, hat sie keinen Augenblick daran gezweifelt, daß der Gehorsam, den sie forderte, nichts anderes sei als die Unterwerfung unter den göttlichen Willen selbst, und daß sie in den Lehren, die sie den Gegnern gegenüber stellte, die Religion selbst ausgeprägt habe.
Bezeichnet man unter „katholisch“ die Lehr- und Gesetzeskirche, so ist sie damals, im Kampfe mit dem Gnosticismus, entstanden.
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/133&oldid=- (Version vom 30.6.2018)