Das apostolische Zeitalter liegt hinter uns. Wir haben gesehen, daß das Evangelium in demselben von dem mütterlichen Boden des Judentums losgelöst und auf den weiten Plan des griechisch-römischen Reichs gestellt worden ist. Der Apostel Paulus ist es vornehmlich gewesen, der dies vollzogen und damit das Christentum in die Weltgeschichte übergeführt hat. Die neue Verbindung, die es empfing, bedeutete an sich keine Hemmung; im Gegenteil, die christliche Religion war darauf angelegt, sich in der Menschheit – und diese stellte sich damals im orbis Romanus dar – zu verwirklichen. Aber neue Formen mußten sich nun entwickeln, und sie bedeuteten auch eine Beschränkung und Belastung. Wir werden dieser Erkenntnis näher treten, wenn wir nun
betrachten.
Das Evangelium ist nicht als statutarische Religion in die Welt getreten, und es kann daher auch in keiner Form seiner intellektuellen und gesellschaftlichen Ausprägung, auch nicht in der ersten, seine klassische und bleibende Erscheinung haben. Diesen Hauptgedanken muß sich der Historiker stets gegenwärtig halten, der es unternimmt, den Gang der christlichen Religion vom apostolischen Zeitalter durch die Jahrhunderte hindurch zu verfolgen. Weil diese Religion über den Gegensätzen von Diesseits und Jenseits, Leben und Tod, Arbeit und Weltflucht, Vernunft und Ekstase, Judentum und Griechentum steht, so vermag sie auch unter den
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/123&oldid=- (Version vom 30.6.2018)