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Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/080

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Ich antworte erstens, was wäre denn gewonnen worden, wenn es diesen „Mangel“ nicht gehabt hätte? Angenommen, es wäre lebhaft auf jene Bestrebungen eingegangen, hätte es sich nicht in ihnen verstricken müssen oder mindestens den gefährlichen Schein auf sich gezogen, in ihnen verstrickt zu sein? Arbeit, Kunst, Wissenschaft, Kulturfortschritt existieren nicht in abstracto, sondern immer nur in der bestimmten Phase einer Zeit. Mit ihnen hätte sich das Evangelium also verbinden müssen. Aber die Phasen ändern sich. Wir erleben heute an der römisch-katholischen Kirche, zu welch einer schweren Last die Verbindung mit einer bestimmten Kulturepoche für die Religion wird. Im Mittelalter war diese Kirche voll Teilnahme, formgebend, gesetzgebend auf alle Fragen des Fortschritts und der Kultur eingegangen. Unvermerkt hat sie aber ihr heiliges Erbe und ihre eigentliche Aufgabe mit den Erkenntnissen, Maximen und Interessen, die sie damals gewonnen hat, identifiziert. Nun ist sie gleichsam festgenagelt auf der Philosophie, der Nationalökonomie, kurz auf dem ganzen Kulturzustand des Mittelalters! Wie viel hat im Gegensatz dazu das Evangelium dadurch der Menschheit geleistet, daß es die Töne der Religion in mächtigen Akkorden angeschlagen und jede andere Melodie verbannt hat!

Zweitens, Arbeit und Fortschritt der Kultur sind gewiß wertvolle Dinge, in denen wir uns strebend bemühen sollen. Aber das höchste Ideal liegt nicht in ihnen beschlossen; sie vermögen die Seele nicht mit wirklicher Befriedigung zu erfüllen. Wohl schafft die Arbeit Lust, aber dies ist doch nur die eine Seite der Sache: ich habe immer gefunden, daß über die Lust, welche die Arbeit gewährt, diejenigen lauter sprechen, die sich selbst nicht allzuviel anstrengen, während die bei ihrem Preise Umstände machen, die in ununterbrochener heißer Arbeit stehen. In der That, es läuft da sehr viel leeres Gerede und Heuchelei mit unter. Dreiviertel der Arbeit und mehr ist nichts als stumpfmachende Mühe, und wer wirklich hart arbeitet, fühlt den sehnsüchtigen Ausblick des Dichters auf den Abend nach:

Das Haupt, die Füß’ und Hände
Sind froh, daß nun zum Ende
Die Arbeit kommen sei.[WS 1]

Aber auch die Ergebnisse! Wenn man fertig ist, möchte man jede Arbeit noch einmal machen, und das Stückwerk fällt schwer auf die Seele und das Gewissen. Nein, wir leben nicht soviel als

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Paul Gerhardt (1607–1676), Nun ruhen alle Wälder (EG 477,5).
Empfohlene Zitierweise:
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 076. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/080&oldid=- (Version vom 30.6.2018)