Sittlichen enthalten ist: er meint die gemeine Moral. Aber hier erheben sich nun die Fragen.
Erstlich: Wenn es sich um etwas so Einfaches handelte, um das ewige Recht des Heiligen, warum dieser ganze Apparat von dem Kommen des Gerichtstages, von der Art an den Wurzeln der Bäume, von dem Feuer, das verzehren wird, und dgl.?
Zweitens: Ist diese Bußtaufe in der Wüste und diese Predigt vom Kommen des Gerichts nicht einfach Reflex oder Produkt der politischen und sozialen Zustände, in denen sich das Volk damals befand?
Drittens: Was enthält denn diese Verkündigung überhaupt Neues, was nicht im Judentum schon früher ausgesprochen worden wäre?
Diese drei Fragen hängen aufs innigste unter sich zusammen.
Zunächst also dieser ganze dramatisch-eschatologische Apparat: das Reich Gottes kommt, das Ende ist nahe, u. s. w. Nun, jede ernste, aus der Tiefe des Erlebten quillende Hinweisung auf Gott und das Heilige – sei es im Sinne der Erlösung, sei es in dem des Gerichts – hat, soweit wir die Geschichte kennen, stets die Form angenommen, daß das Ende nahe sei. Wie ist das zu erklären? Die Antwort ist nicht schwierig. Die Religion ist nicht nur ein Leben in und mit Gott, sondern auch, eben weil sie dies ist, die Enthüllung des Sinns und der Verantwortlichkeit des Lebens. Wem sie aufgegangen ist, der findet, daß ohne sie umsonst nach diesem Sinn gesucht wird, daß der einzelne sowohl wie die Gesamtheit ziellos wandelt und stürzt. „Sie gehen alle in der Irre; ein jeglicher sieht auf seinen Weg.“[WS 1] Der Prophet aber, der Gottes inne geworden ist, erkennt mit Schrecken und Angst dieses allgemeine Irren und die allgemeine Verwahrlosung. Es geht ihm wie einem Wanderer, der seine Genossen blind einem Abgrund zueilen sieht und sie um jeden Preis zurückrufen will. Es ist die höchste Zeit – noch kann er sie warnen; noch kann er sie beschwören: „Kehret um“[WS 2]; aber vielleicht schon in der nächsten Stunde ist alles verloren. Es ist die höchste Zeit, es ist die letzte Zeit – in diesen Ruf hat sich daher bei allen Völkern und in allen Epochen die energische Mahnung zur Umkehr gekleidet, wenn ihnen wieder einmal ein Prophet geschenkt war. Der Prophet durchschaut die Geschichte, er sieht das unwiderrufliche Ende, und er ist erfüllt von grenzenlosem Staunen darüber, daß bei der Gottlosigkeit und Blind-
Anmerkungen (Wikisource)
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 027. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/031&oldid=- (Version vom 30.6.2018)