zu erkennen suchen. Das Gemeinsame in allen diesen Erscheinungen, kontrolliert an dem Evangelium, und wiederum die Grundzüge des Evangeliums, kontrolliert an der Geschichte, werden uns, so dürfen wir hoffen, dem Kerne der Sache nahe bringen. In dem Rahmen einer Vorlesung von wenig Stunden kann freilich überall nur das Wichtigste hervorgehoben werden; aber vielleicht ist es nicht ohne Gewinn, einmal nur die starken Züge und die Höhepunkte des Reliefs ins Auge zu fassen und, unter Zurückstellung alles Sekundären, den gewaltigen Stoff in einer Konzentration zu betrachten. Selbst davon werden wir absehen und absehen dürfen, einleitend uns über das Judentum und seine äußere und innere Lage zu verbreiten und über die griechisch-römische Welt uns auszusprechen. Selbstverständlich werden wir nie unsern Blick ihnen gegenüber verschließen dürfen – sie müssen uns vielmehr immer im Sinne sein –, aber weitschichtige Darlegungen sind hier nicht nötig. Die Predigt Jesu wird uns auf wenigen, aber großen Stufen sofort in eine Höhe führen, auf welcher ihr Zusammenhang mit dem Judentum nur noch als ein lockerer erscheint, und auf der überhaupt die meisten Fäden, die in die „Zeitgeschichte“ zurückführen, unbedeutend werden. Diese Behauptung mag ihnen paradox erscheinen; denn gerade heute wieder wird uns mit der Miene, als handle es sich um eine neue Entdeckung, eindringlich versichert, man könne die Predigt Jesu nicht verstehen, ja überhaupt nicht richtig wiedergeben, wenn man sie nicht im Zusammenhang der damaligen jüdischen Lehren betrachte und diese allen zuvor aufrolle. An dieser Behauptung ist sehr viel wahres, und sie ist doch, wie sich zeigen wird, unrichtig. Vollends falsch aber wird sie, wenn sie sich zu der blendenden These steigert, das Evangelium sei nur als die Religion einer verzweifelten Volksgruppe begreiflich; es sei die letzte Anstrengung einer decadenten Zeit, die nach dem notgedrungenen Verzicht auf diese Erde nun den Himmel zu stürmen versucht und dort Bürgerrecht fordert – eine Religion des Miserabilismus! Nur merkwürdig, daß die wirklich Verzweifelten sie eben nicht aufnahmen, sondern bekämpften; merkwürdig, daß die Führenden, soweit wir sie kennen, wahrlich nicht die Züge schwächlicher Desperation tragen; am merkwürdigsten, daß sie auf diese Erde und ihre Güter zwar verzichten, aber in Heiligkeit und Liebe einen Bruderbund gründen, der dem großen Elend der Menschheit den Krieg erklärt.[AU 1] So oft ich die Evangelien wieder lese und über-
Anmerkung des Autors (1908)
- ↑ „ein Bruderbund gründen, der dem großen Elend der Menschheit den Krieg erklärt“ – das ist nicht so zu verstehen, als habe sich diese Kriegserklärung gegen die sozialen Nöte gerichtet; sie richtet sich gegen den Jammer, so weit er durch Sünde und Lieblosigkeit verschuldet war und ihm durch Strenge des Lebens und Liebe abgeholfen werden konnte.
Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. J. C. Hinrichs, Leipzig 1900, Seite 010. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasWesenDesChristentums.djvu/014&oldid=- (Version vom 30.6.2018)