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Seite:Dante - Komödie - Streckfuß 196197.jpg

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Hier Brutus an der schwarzen Schnauze Schlund
Sich ohne Laute winden, drehn und drängen;

67
Dort Cassius, kräftig, wohlbeleibt und rund. –

Doch naht die Nacht, drum sei jetzt fortgegangen,
Denn ganz erforscht ist nun der Hölle Grund.“

70
Jetzt winkte mir, den Hals ihm zu umfangen,

Und Zeit und Ort ersah sich mein Gesell,
Und, als sich weit gespreizt die Flügel schwangen,

73
Hing er sich an die zott’ge Seite schnell,

Griff Zott’ auf Zott’, um sich herabzusenken
Inmitten eis’ger Rind’ und rauhem Fell.

76
Dort angelangt, wo in den Hüftgelenken[1]

Des Riesen sich der Lenden Kugel drehn,
Eilt’ er, mit Müh’ und Angst, sich umzuschwenken.

79
Wo erst der Fuß war, kam das Haupt zu stehn;

Die Zotten fassend, klomm er aufwärts weiter,
Als sollten wir zurück zur Hölle gehn.

82
„Hier halte fest dich; denn auf solcher Leiter

Entkommt man nur so großem Leid,“ so sprach
Tief keuchend, wie ein Müder, mein Begleiter,

85
[197] Worauf er Bahn sich durch ein Felsloch brach,

Dann setzt’ er mich auf einen Rand daneben,
Und klomm mit mir den Fuß behutsam nach.

88
Ich blickt’ empor, und glaubte, wie ich eben

Den Dis gesehn, so stell’ er noch sich dar;
Doch seine Füße sah ich sich erheben.

91
Wem nun mein jäher Schreck’ nicht wäre klar,

Den bät’ ich, daß er erst erkennen lerne,
Durch welchen Punkt ich jetzt gedrungen war.

94
Da sprach Virgil: „Jetzt auf, das Ziel ist ferne,

Der Weg auch schwierig, den du vor dir hast;
Und Sol, aufsteigend, scheucht bereits die Sterne.“

97
Nicht war’s ein Gang durch einen Prachtpalast,

Der vor mir lag; er lief auf rauhem Grunde
Durch eine Felsschlucht, völlig dunkel fast.

100
Ich, aufrecht stehend, sprach: „„Eh aus dem Schlunde

Der Weg, den du mich leitest, mich entläßt,
Reiß aus dem Irrthum mich und gieb mir Kunde:

103
Wo ist das Eis? Wie steckt Dis köpflings fest?

Und wie hat Sol so schnell aus solchen Weiten[2]
Die Ueberfahrt gemacht zum Ost vom West?““

106
„Du glaubst dich auf des Centrums andrer Seiten,

Wo du am Wurme, der die Erde kränkt
Und sie durchbohrt, mich sahst herniedergleiten.

109
Du warst’s, so lang’ ich mich hinabgesenkt;

Allein den Punkt, der anzieht alle Schwere,
Durchdrangest du, da ich mich umgeschwenkt.

112
Jetzt kamst du zu der andern Hemisphäre,

Entgegen der, die großes trocknes Land
Bedeckt, und unter deren Zelt der Hehre[3]


  1. 76. Wenn man mit der Phantasie bis in den Mittelpunkt der Erde gedrungen ist, so findet man allerdings kein anderes Mittel, auf der anderen Seite, mit dem Kopfe zuerst, wieder herauszukommen, als sich so umzuschwenken, wie Virgil, dessen Hals Dante umfaßt, hier thut. Man wird es aber auch ganz natürlich finden, daß Virgil bis zum Mittelpunkte niederwärts, von diesem an aber, nachdem er sich umgedreht, wieder aufwärts steigt, obwohl er immer ohne alle Unterbrechung in derselben Richtung fortklimmt. Eben so natürlich ist es auch, daß, da die Mitte des Lucifer gerade der Mittelpunkt der Erde ist, die Reisenden, da sie jenseits desselben angelangt sind, Lucifers Füße emporragen sehen. Uebrigens ist auch die moralische Deutung nicht schwer zu finden. Der Mensch, der, nachdem er die Sünde erkannt hat, sich von ihr reinigen will, muß, um zu seinem Ziel zu gelangen, in ganz entgegengesetzter Richtung vorwärts streben. Er muß das böse Princip hinter sich und unter sich haben, und von dem Augenblicke an, da er es erkannt hat, emporklimmen.
  2. [197] 104. Ehe sie den Mittelpunkt überschritten, sagte Virgil V. 68: Es naht die Nacht. Jenseits desselben sagte er V. 96: Und Sol, aufsteigend, scheucht bereits die Sterne. Dieser anscheinende Widerspruch ist’s, über welchen Dante sich hier die Erklärung erbittet, die er in den folgenden Versen erhält. Bei jener Stelle dachte Virgil an die östliche, bei dieser, nachdem sie den Mittelpunkt überschritten, an die westliche Hemisphäre – an die Gegenfüßler, bei welchen der Morgen tagt, wenn bei uns die Nacht kommt.
  3. 114. Der Hehre, Christus, dessen Name in der Hölle nie ausgesprochen worden ist.
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 196 bzw. 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_196197.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)