Verglas’te Thränen nehmest, sollst du wissen:
Sobald die Seele den Verrath vollzieht,[1]
Von einem Teufel, der dann drin regiert
Bis an den Tod, indeß in Finsternissen
Vielleicht ist oben noch der Körper dessen,
Der hinter mir in diesem Eise friert.
Herr Branca d’Oria ist’s, der jämmerlich[2]
Schon manches Jahr im Eise fest gesessen.“
Denn Branca d’Oria ist noch nicht begraben,
Und ißt und trinkt und schläft und kleidet sich.““
An dem beim Pech die Schaar von Teufeln wacht,
Noch nicht erreicht Herr Michel Zanche haben,
So ging’s auch dem von d’Oria’s Geschlechte,
Der den Verrath zugleich mit ihm vollbracht.
Und nimm das Eis hinweg“ – doch that ich’s nicht,[3]
Denn gegen ihn war Schlechtsein nur das Rechte;
Ihr Genueser, jeder Schuld Genossen,
Was tilgt euch nicht des Himmels Strafgericht?
Der Euren Einen, für sein Thun belohnt,
Die Seel’ in des Cocytus Eis verschlossen,
Schau hin, ob du vermagst ihn zu erspähen,“
So sprach mein edler Meister jetzt zu mir,
Wie in der Dämmerung, vom fernen Ort,
Windmühlenflügel aussehn, die sich drehen,
Und da ich nichts, mich vor dem Wind zu decken,
Sonst fand, drängt’ ich mich hinter meinen Hort.
Die Geister, in durchsicht’ges Eis gebannt,
Ganz drin, wie Splitterchen im Glase, stecken.
- ↑ 129. Eine höchst sinnreiche Beziehung der Strafe auf das Verbrechen. Wer Verrath an Vertrauen übt, dessen Seele wird sofort eine Beute der Höllenqual, welche im Leben Vorwurf, fruchtlose Reue und Selbstverachtung bereiten. Und wie die von ihr erzeugte Verzweiflung die wildesten und schlechtesten Leidenschaften aufregt, so scheint fortan nicht mehr eine Menschenseele, sondern ein Teufel den Leib des Verräthers zu regieren.
- ↑ 137. Branca d’Oria tödtete bei Tische seinen Schwiegervater, Michael Zanche, welchen wir oben im Pechpfuhle gefunden, um sich seines Amtes und seiner Reichthümer zu bemächtigen. Ihm half dabei ein Verwandter, der V. 146 erwähnt wird.
- ↑ 149. 150. In dem Versprechen V. 116 lag ein Doppelsinn, den der Dichter absichtlich hineinlegt, um den Verdammten zu täuschen. Dante hat ohnehin die Absicht, zum Grunde des Eises niederzusteigen, und kann sich daher unbedenklich anheischig machen, dies zu thun, wenn er nicht das Verlangte gewähre. Wenn er nun jetzt sein Versprechen wirklich nicht hält und glaubt, es sei Unrecht, die Strafe, die Gott auferlegt, durch Gefälligkeit zu lindern, so wird man doch nicht umhin können, sein sittliches Gefühl durch diesen Zug verletzt zu finden. [193] Doch möge man bedenken, daß der Dichter in diesem Theile nur die Sünde erkennen, im folgenden aber erst von derselben sich reinigen soll; [ferner, daß es entschuldbar ist, wenn sein Herz in der Anschauung dieser Erzsünder und ihrer grausen göttlichen Strafen so versteint, daß er fühllos die Ges. 20. 28 ausgesprochene Lehre Virgils befolgt!]
- ↑ [151. Wie wenig Dante in dieser Schilderung übertrieben, weist Philalethes in seinem Commentar nach.]
- ↑ XXXIV. [1. 2. „Vexilla regis prodeunt inferni (adversum nos“) im Original. Es ist dies der Anfang des Karfreitags-Hymnus.]
- ↑ 10. Wir betreten die vierte Abtheilung des letzten Kreises, Judecca, wo diejenigen bestraft werden, welche an ihren Wohlthätern Verrath üben, indem sie in verschiedenen Stellungen ganz und gar im Eise stecken. In der Mitte dieser Abtheilung oder des Alls finden wir die vier Hauptverräther dieser Art, den Dis oder Lucifer, das Oberhaupt der abgefallenen Engel, Judas Ischarioth, Cassius und Brutus.
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 192 bzw. 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_192193.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)