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Seite:Dante - Komödie - Streckfuß 190191.jpg

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Rief sie drei Tage, seit ihr Blick gebrochen;
Dann that der Hunger, was kein Schmerz vermag.“[1]

76
Und scheelen Blickes fiel er, dies gesprochen,

Den Schädel an, den er zerriß, zerbrach,
Mit Zähnen, wie des Hundes, stark für Knochen.

79
O Pisa, du, des schönen Landes Schmach,

In dem das Si erklingt mit süßem Tone,
Sieht träg dein Nachbar deinen Freveln nach,

82
So schwimme her Capraja und Gorgone,[2]

Des Arno Mund zu stopfen, daß die Flut
Dich ganz ersäuf’ und keiner Seele schone.

85
Denn, wenn auch Ugolino’s Frevelmuth,

Wie man gesagt, die Schlösser dir verrathen,
Was schlachtete die Kinder deine Wuth?

88
O neues Theben, war an solchen Thaten

Nicht ohne Schuld das zarte Knabenpaar,
Das ich genannt? nicht Hugo samt Brigaten? –

91
Wir gingen nun zu einer andern Schaar,[3]

Die, statt wie jene, sich hinabzukehren,
Das Antlitz aufwärts, eingefroren war.

94
Die Zähren selber hemmen hier die Zähren,

Drum wälzt der Schmerz, der nicht nach außen kann,
Sich ganz nach innen, um die Angst zu mehren.

97
Denn, was zuerst dem trüben Aug’ entrann,

Das war zum Klumpen von Krystall verdichtet,
[191] Und füllte ganz die Augenhöhlen an.

100
Und ob vom Frost, der solches Eis geschichtet,

Mein Antlitz wie bedeckt mit Schwielen schien,
Und deshalb jegliches Gefühl vernichtet,

103
Doch fühlt’ ich, schien’s, mir Luft entgegenziehn;

Drum sprach ich: „„Herr, wie mag hier Luft sich regen,
Wo nie die Sonne, dunstentwickelnd, schien?““

106
Und Er: „Du gehst der Antwort schnell entgegen,

Und siehst, wenn wir noch weiter fort gereist,
Aus welchem Grund die Lüfte sich bewegen.“

109
Da rief ein eisumstarrter armer Geist:

„Grausame Seelen, ihr, die jetzt vom Lichte
Zu dieser letzten Stelle Minos weist,[4]

112
Hebt mir den harten Schleier vom Gesichte,

Damit ich lüfte meines Herzens Weh’n,
Eh neu die Thräne sich zu Eis verdichte.“

115
Ich sprach: „„Soll dir’s nach deinem Wunsch geschehn,

So nenne dich, und wenn ich’s nicht erzeige,
So will ich selbst zum Grund des Eises gehn.““

118
Drauf Er: „Ich bin’s, der Frucht vom bösen Zweige[5]

Als Bruder Alberich dort angeschafft,
Und speise hier die Dattel für die Feige.“[6]

121
„„O,““ rief ich, „„hat der Tod dich hingerafft?““

Und Er zu mir: „Ob noch mein Leib am Leben,
Davon bekam ich keine Wissenschaft.

124
Denn Ptolemäa hat den Vorzug eben,

Daß oft die Seele stürzt in dies Gebiet,
Eh’ ihr den Anstoß Atropos gegeben.[7]

127
Und daß du lieber mir vom Augenlid

  1. 75. Im Original: Dann vermochte der Hunger mehr als der Schmerz. D. h. der grausamste Schmerz hatte es nicht vermocht mich zu tödten, aber der Hunger vermochte es. Wenn wir den Vater, so lange noch eins der Kinder lebt, um sie zu beruhigen, den qualvollsten Seelenschmerz in sich verschließen und die Folter des Hungers schweigend ertragen, erst nach dem Tode Alle seinem Jammer durch das Ausrufen ihrer Namen Luft machen, den durch das Vergehen seiner Kräfte Erblindeten noch auf die Leichen der Geliebten hinwanken sehen – dann erhebt uns eben diese großartige Standhaftigkeit, diese Liebe, über die Schrecken der Jammerscene und gibt unserm Gemüthe einen sittlichen Genuß, welcher uns ihre Schauer erträglich macht.
  2. 82. Capraja und Gorgone, kleine Inseln nicht weit vom Ausflusse des Arno.
  3. 91. Die Dichter betreten die dritte Abtheilung Ptolemäa.
  4. [191] [111. Er hält sie für Sünder, welche Minos in die unterste Hölle gewiesen wegen eines besonders „grausamen“ Verraths.]
  5. 118. [Alberigo de Manfredi von Faënza, einer von den Lustbrüdern Gs. 29. 130, lud einen ihm verhaßten Verwandten mit seinem Söhnlein zu Tisch. Am Ende des Mahles rief er „bringt die Früchte“ und versteckte Mörder aus seiner eigenen Familie brachen hervor und tödteten Vater und Kind.]
  6. [120. Selbstironie. Die fremde Dattel galt für kostbarer noch als die einheimische Feige. Damit vergleicht er seinen Höllenlohn.]
  7. [126. Ehe Atropos, die dritte Parze, den Lebensfaden abgeschnitten hat.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 190 bzw. 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_190191.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)