Der Pisa hindert, Lucca zu erschauen.[1]
Wohleingeübt, entsendet’ er Sismunden,
Lanfranken sammt Gualanden sich voraus.
Und seiner Jungen Kraft, und bis zum Tod
Sah ich von scharfen Zähnen sie verwunden.
Da jammerten, halb schlafend noch, die Meinen,
Die bei mir waren, und verlangten Brod.
Theilst du, was bang zu ahnen ich begann,
Und weinest nicht, wann pflegst du dann zu weinen?
Wo man uns sonst die Speise bracht’, und Jeden
Weht’ ob des Traumes Unglücksahnung an.
Graunvollen Thurm – und in’s Gesicht sah ich
Den Kindern allen, ohn’ ein Wort zu reden.[2]
Sie weinten, und mein Anselmuccio fragte:
Du blickst so, Vater! ach, was hast du? sprich!
Ich nichts, und nichts die Nacht, bis abermal
Des Morgens Licht der Welt im Osten tagte.
Ein wenig fiel, da schien es mir, ich fände
Auf vier Gesichtern mein’s und meine Qual.
Und Jene, wähnend, daß ich es aus Gier
Nach Speise thät’, erhoben sich behende
Wie wir von dir die arme Hüll’ erhalten,
O, so entkleid’ uns, Vater, auch von ihr.
Stumm blieben wir den Tag, den andern noch.
Und du, o Erde, konntest dich nicht spalten?
Mein Gaddo zu mir hin mit leisem Flehen:
Was hilfst du nicht? Mein Vater, hilf mir doch!
Wie du mich siehst, am fünften, sechsten Tag,
Jetzt den, jetzt den hinsinken und vergehen,
- ↑ 30. Der Berg San Giuliano, der zwischen Pisa und Lucca liegt. Der Traum deutet, wie wir sehen, auf die Flucht Ugolino’s und seine Gefangennehmung. Daß er sich als Wolf bezeichnet, beweist ebenso, wie die Stelle, welche der Dichter ihm angewiesen, daß dieser ihn des Verraths am Vaterlande wirklich für schuldig gehalten hat.
- ↑ [189] 48. [Ein poetisch feiner Zug, der den Eindruck des ganzen steigert, daß Dante alle vier Mitgefangenen zu unschuldigen „Kindern“ macht, während jedenfalls die zwei Söhne erwachsene Männer waren, gegen welche aber kein geschichtliches Zeugniß der Mitschuld an Ugolino’s Plänen vorliegt!]
- ↑ 64. Im Original weit schöner und ausdrucksvoller: Da beruhigt’ ich mich, um sie nicht trauriger zu machen.
- ↑ 67. Im Original wörtlich: Als wir den vierten Tag erreicht, warf sich Gaddo ausgestreckt zu meinen Füßen hin. Der Kundige, welcher von den Grenzen der Uebersetzungskunst einen Begriff hat, wird den Uebersetzer entschuldigen, wenn derselbe lieber einen minderbedeutenden Zug hat durch einen andern ersetzen, als durch erzwungene Wortstellung und schiefe Ausdrücke den Eindruck der gewaltigen Darstellung stören wollen.
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 188 bzw. 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_188189.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)