Sonst werdet ihr ohn’ eure Schuld verlacht.
Und schwör’, o Leser, dir, bei dem Gedicht,
Dem nimmer möge Huld und Gunst gebrechen:
Ein Bild nach oben schwimmend, sich erheben,
Dem Kühnsten wohl ein wunderbar Gesicht,
Den Anker, der im Felsenrisse steckt,
Zu lösen, wenn er sich beim Aufwärtsstreben
Der Berge spaltet, Mauer bricht und Thor!
[95] Sieh, was mit Stank erfüllt das große Ganze!“
Und rief mit seinem Wink das Thier zum Rande,
Bis nah zu unserm Marmorpfade vor.[3]
Und schob den Kopf und dann den Rumpf heran,
Doch zog es nicht den scharfen Schweif zum Strande.
Und ließ von außen Mild und Huld gewahren,
Doch dann fing die Gestalt des Drachen an,
Und Rücken, Brust und Seiten, die bemalt
Mit Knoten und mit kleinen Schnörkeln waren;
Wie, was auch Türk’ und Tatar je gewoben,
So bunt doch nichts an Grund und Muster prahlt.
Am Lande sieht an unsrer Flüsse Strand,
Und wie, zum Kampf den Vorderleib erhoben,
So sah ich jetzt das Ungeheuer, ragend
Und vorgestreckt auf unsers Dammes Rand,
Und, mit der Scorpionen Wehr versehn,
Die Gabel windend, und sie aufwärts tragend.
Und auf gewundnem Pfad zum Ungeheuer,
Dorthin, wo’s jetzo liegt, hinuntergehn.“
- ↑ 133. Die Gestalt bewegte sich wie ein Mann, welcher untergetaucht ist, um einen Anker vom Felsen los zu machen, wenn er wieder in die Höhe schwimmt, wobei er die Schenkel an den Leib zieht, die Hände aber von sich streckt. Das Bild wird jedem klar sein, welcher einen Menschen im Meere hat untertauchen und wieder gerade emporschwimmen sehen.
- ↑ XVII. 1. Das Bild des Betrugs, welches sich aus der Tiefe des achten Kreises emporschwingt, – eine Andeutung, daß sich der Betrug wohl auch zur Gewalt erhebt, wie die Gewalt zum Betruge hinabsinkt – wird V. 97 Geryon geheißen. In der Mythologie ist Geryon ein dreiköpfiger Riese, erzeugt von Chrysaor, der aus dem Blute der Medusa entsprungen war. Seine Schwester Echidna, die halb Nymphe halb Drache war, scheint mehr dem hier beschriebenen Bilde zu gleichen. Sie gebar mit anderen Ungeheuern auch die Sphinx und die lernäische Schlange. Man wird hierin die Gründe finden, aus welchen der Dichter eben den Geryon zum Bilde des Betrugs ausersah. Die ganze Darstellung des Bildes und seines Anlandens werden wir als höchst plastisch, und die Allegorie in jedem Zuge als sinnreich anerkennen. Namentlich wird man nicht übersehen, daß der Betrug V. 9 seine Waffe, den Schweif, nicht mit ans Land zieht, sondern sie im Freien läßt um auch nicht einen Augenblick in ihrem Gebrauche nach allen Seiten hin behindert zu sein. Die Tatzen sind mit Haaren bedeckt, damit die Kralle verborgen, das Auftreten auch leise und unhörbar sei. Die Knoten und Schnörkel deuten auf die dem Betrug eigenthümlichen Verwickelungen und Winkelzüge.
- ↑ [95] 6. Das felsige Ufer des Phlegeton.
- ↑ 22. Die Landsleute werden dem Uebersetzter verzeihen, wenn er die Tedeschi lurchi mit unhöflicher Treue durch deutsche Fresser wiedergibt. Es bedeutet nun einmal nichts Anderes. Auch sind ja die Deutschen damaliger Zeit gemeint, welche bei den Italienern, von denen sie auf den Zügen der Kaiser oft ernährt werden mußten, wegen der außerordentlichen Stärke ihrer Verdauungskraft im übelsten Rufe standen.
- ↑ 31. Wir sind noch im Kreise der Gewaltthätigen, und zwar im dritten Binnenkreise, wo diejenigen bestraft werden, die Gott Gewalt anthun. Zu diesen gehören, wie wir oben gesehen, die Wucherer, die hier im Feuerregen sitzen. Die Tasche an ihrem Halse deutet auf ihre [96] Geldgier und gibt dem Dichter Gelegenheit, die Wappen anzubringen, welche die Familien, denen die Sünder im Leben angehört, bezeichnen. [Den Leuen führten die Gianfigliazzi, die Gans die Ubriacchi, das Schwein die Scrovigni, lauter hohe florentinische und paduanische Geschlechter und zwar ebenso ghibellinischer wie welfischer Richtung. Im Ganzen liegt darin, daß sie ihre Wappen auf jener Tasche tragen, der beißendste Hohn über den damals unter dem Adel von Florenz etc. überhand nehmenden Krämergeist.] Eine nähere persönliche Bezeichnung einzelner Wucherer ist nicht zu finden, wahrscheinlich weil der Dichter sie, wie die Erbärmlichen im dritten und die Geizigen im siebenten Gesange, als aller Persönlichkeit entbehrend, für zu schlecht hält, einen Namen zu hinterlassen.
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 94 bzw. 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_094095.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)