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Seite:Dante - Komödie - Streckfuß 058059.jpg

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55
Er blickt’ um mich nach beiden Seiten hin,

Als woll’ er sehn, ob Jemand mich begleite,
Doch floh der Irrthum bald aus seinem Sinn,

58
Und weinend sprach er dann: „Wenn dein Geleite

Des Geistes Hoheit ist durch diese Nacht,
Wo ist mein Sohn? warum nicht dir zur Seite?“ –

61
„„Nicht eigner Geist hat mich hierher gebracht.[1]

Der dort harr’, führte mich ins Land der Klagen,
Dein Guido hatte sein vielleicht nicht Acht.““

64
So ich – beim Wort und bei der Art der Plagen

Könnt’ ich wohl seines Namens sicher sein,
Und drum ihm auch so sicher Antwort sagen.

67
Schnell richtet’ er sich auf mit lautem Schrei’n:[2]

Er hatte, sagst du? ist er nicht am Leben.
Saugt nicht sein Auge mehr den süßen Schein?“

70
Und da ich nun, statt Antwort ihm zu geben,

Noch zauderte, so fiel er rücklings hin,
Um fürder sich nicht wieder zu erheben.

73
Doch jener Andre mit dem stolzen Sinn,

Der mich gerufen, blieb auf seiner Stätte,
Starr, ungebeugt und trotzig wie vorhin.

76
Dann, neu verknüpfend seiner Rede Kette:

„Ward jene Kunst zu Theil den Meinen nicht?
[59] Dies martert mehr mich noch als dieses Bette.

79
Doch wird nicht funfzigmal sich das Gesicht[3]

Der Herrin dieses Dunkels neu entzünden,
So wirst du fühlen dieser Kunst Gewicht.

82
Sprich, willst du je zurück aus diesen Gründen,[4]

Wie gegen mein Geschlecht mag solche Wuth
Das Volk in jeglichem Gesetz verkünden?“

85
Ich sprach: „„Das große Morden ist’s, das Blut,

Das rothgefärbt der Arbia klare Wogen,
Das eu’r Geschlecht mit solchem Fluch belud.““

88
Er seufzt’ und schüttelte das Haupt: „Vollzogen

Hab’ ich allein nicht diese blut’ge That,
Und Alle hat uns trift’ger Grund bewogen.

91
Doch ich allein war’s, der dem grausen Rath:

Es müsse bis zum Grund Florenz verschwinden,
Mit offnem Angesicht entgegentrat.“

94
„„Soll euer Same jemals Ruhe finden,““

So sprach ich bittend, „„löst die Schlingen hier,
Die noch, mein Urtheil hemmend, mich umwinden.

97
Versteh’ ich recht, so scheint es wohl, daß ihr

Erkennen mögt, was künft’ge Zeiten bringen,
Doch mit der Gegenwart scheint’s anders mir.““

100
Er sprach: „Uns trägt der Blick nach fernen Dingen,

Wie’s öfters wohl der schwachen Sehkraft geht,[5]
Denn soweit läßt der höchste Herr uns dringen.


  1. 61. 62. Nicht die Hoheit seines Geistes (ingegno, Genie) hat den Dichter hierher geführt, sondern die Vernunft, welche nicht immer die Hochbegabten leitet. Vielleicht hatte Guido dieses Führers nicht geachtet. Uebrigens war Guido, obwohl einige Gedichte von ihm sich erhalten haben, doch mehr Philosoph als Dichter, daher V. 63 auch nach dem Wortsinne ausgelegt werden kann: Er hat vielleicht die Werke des Virgil nicht studirt.
  2. 67–72. Die Worte: Er hatte — machten den Vater glauben, sein Sohn lebe nicht mehr. Erst nur bis zum Knie über das Grab hervorragend, richtet er sich bei dieser Vermuthung schnell ganz empor, und fällt zurück, als Dante mit der Anwort zögert. — Wie schön hier Vaterliebe und Gram mit wenigen Worten in bestimmter in sich vollendeter Handlung dargestellt sind, wird jeder Leser bemerken. Dies Bild des liebevollen von Schmerz niedergebeugten Vaters gewinnt an Wirkung durch den Gegensatz, welchen uns der gewaltige trotzige Farinata darstellt, der, ohne sich um das Vorgefallene zu bekümmern, V. 76 das vorher abgebrochene Gespräch wieder anknüpft.
  3. [59] 79. Die Herrin dieses Dunkels ist die dreigestaltige Göttin Proserpina, die auch als Diana und Luna erscheint. Von einem Ereignisse, das in noch nicht vollen fünzig Monden sich zutragen wird, ist daher die Rede. Die Kunst ist nach V. 49–52 die: aus der Verbannung zurückzukehren, daher denn auch die im Jahre 1304 fruchtlos versuchte Rückkehr der Weißen [sammt dem, damals mit ihnen verbannten Dichter hingedeutet ist. Vorbemerkung zu Ges. 1.] Du wirst das Gewicht dieser Kunst fühlen (quanto quell arte pesa) heißt: der fruchtlose Versuch wird dich belehren, wie schwer diese Kunst ist.
  4. 82. Wenn die Verbannten zurückgerufen wurden, blieben immer die Uberti, von deren Geschlechte Farinata war, ausgeschlossen.
  5. 101. Hier und an andern Orten sagen die Verdammten Künftiges vorher, ohne daß wir erfahren, woher ihnen diese Gabe der Wahrsagung und die mit ihr verbundene Unfähigkeit, das Gegenwärtige zu erkennen, kommt. [Das treffende Gleichniß von der schwachen Sehkraft fußt auf der Ansicht (nach Thomas), daß unreine Geister nichts Einzelnes, wol aber Allgemeines, wie die Zukunft, erkennen können.]
Empfohlene Zitierweise:
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 58 bzw. 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_058059.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)