Inmitten ist Tisiphone zu schau’n,
Und rechts Alecto in Geheul und Klagen.“
Und sie zerschlugen sich mit solchem Brüllen,
Daß ich mich an den Dichter drängt’ aus Grau’n.
Sie riefen’s, niederbückend, allzugleich
„Was wir versäumt an Theseus zu erfüllen.“[1]
Wenn sie bei Gorgo’s Anblick offen ständen,
Du kehrtest nimmer in des Tages Reich!“
Verließ sich auch auf meine Hände nicht,
Und schloß die Augen mir mit seinen Händen.
Bemerkt die Lehre, die, vom Schlei’r umzogen,
In sich verbirgt dies seltsame Gedicht.
Mit Dröhnen eines Donners voll von Graus,
Erschütternd beide Ufer, hergezogen!
Wenn Glut mit Kühlung ringt sich auszugleichen –
Den Wald zerpeitscht, die Aeste reißt heraus,
Und wälzt sich stolz in Staubeswirbeln vor,
Daß Hirt’ und Heerden schreckensvoll entweichen.
Dorthin, wo du den schärfsten Rauch entquellen
Dem Schaume siehst auf diesem alten Moor.
Vor ihrem Feind, der Wasserschlange, fliehn,
Bis sie am Strand in Schaaren sich gesellen,
Das Thor von den zerstörten Seelen leeren,
Und ihn mit trocknem Fuß den Styx durchziehn.
Vor sich bewegend seine linke Hand,
Und dieser Dunst nur schien ihn zu beschweren.
Zum Meister kehrt’ ich mich, doch auf ein Zeichen,
Neigt’ ich mich schweigend, Jenem zugewandt.
Er kam zum Thore, das sein Stab erschloß,
Und ohne Widerstreben sah ich’s weichen.
Begann er an dem Thor, dem schreckenvollen,
„Woher die Frechheit, die hier überfloß?
- ↑ 54. Theseus folgte seinem Freunde Pirithous zur Unterwelt, als dieser die Proserpina entführen wollte. Beide wurden aber gefangen und blieben es, bis Herkules den Cerberus besiegte und den Theseus befreite. Die Furien nehmen zum Haupte der Medusa ihre Zuflucht, damit der Dichter, durch dessen Anschauen versteint, nicht wie Theseus sich entferne. An den Furien hat es den Sekten zu keiner Zeit gefehlt. Unter dem Haupt der Tempelschänderin Medusa mag wohl der Dichter die personifizirte Ketzerei verstehen, welche, wie der schnelle Anwachs neuer religiöser Sekten zu beweisen pflegt, oft diejenigen, die sie nur betrachten, verwandelt und ihrer geistigen Freiheit beraubt. Der Uebersetzer glaubt, daß dies die Lehre sei, die nach V. 61 – 63 hier unter dem Schleier des Gedichts verborgen liegt.
- ↑ [61–103. Medusa, die Engelserscheinung. Die poetische Herrlichkeit dieser Stelle (64–81) möge sich der Leser durch die Dunkelheit des vielumstrittenen Sinnes nicht trüben lassen! Nach des Herausgebers Ueberzeugung (mit Notter, der selbst hier Rosetti folgt) ist dies eine derjenigen (vielleicht später eingeschobenen) Stellen, in welcher Dante wieder einmal den – ohnedies stets festzuhaltenden – politischen [53] Sinn seiner göttl. Kom. besonders neben dem anderen hervortreten läßt. Daß die Engelserscheinung zunächst, wie schon zu V. 7. bemerkt, im Allgemeinen die nicht vollkommene Zureichendheit der Vernunft und Medusa ein Sinnbild des Zweifels am Glauben der Kirche, eine Art „Personification der Ketzerei“ (Streckfuß) anzeigen könne, ist keine Frage. Aber V. 61–63 weisen auf einen weiteren Sinn, welchem man in der Hinweisung auf die politischen Mißstände von Florenz mit ihrer für so viele sinnverwirrenden, versteinernden Wirkung (Medusa) und in der prophetischen Vorausverkündigung des Siegeszugs Heinrichs VII. i. J. 1312 (gegen Florenz) finden mag, in welch letzteren Dante ja alle seine Hoffnung setzte. – Dazu stimmt, daß die Hölle schwerlich vor 1314 veröffentlicht ist; dazu stimmt des Engels zweideutig, halb menschlich gehaltene Erscheinung und Rede, in welcher zum eigentlichen Engel wol manches nicht paßte (V. 97. 102 etc.) und endlich der Umstand, daß man ohne diesen Nebensinn doch nicht ganz einsehen möchte, warum gerade hier Virgil nicht, wie selbst in den tieferen Kreisen, durch blose Entgegenhaltung des göttlichen Befehls seiner Wanderung (3, 95 u. a.) Einlaß erlangt. – Wir verweisen im Uebrigen auf [54] Notters Excurs in seiner Uebersetzung und was die politischen Beziehungen überhaupt betrifft, auf unsere eigene S. 7. angegebene Schrift im I. Abschnitt. Der Dichter; Nr. 2 „Italien u. Florenz; Dante’s politisches System nach seinem Buch de monarchia.“ –]
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 52 bzw. 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_052053.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)