Sah ich heran vier große Geister schreiten,
Im Angesicht nicht fröhlich und nicht bang.
„Sieh diesen, in der Hand das Schwert, voran
Den Andern gehn, um sie als Fürst zu leiten.
Ovid der Dritt’, als letzter kommt Lukan.
Ihm folgt Horaz, berühmt durch Spott dort oben.
Kommt mit mir selber Jeder überein,
Drum ehren sie mich, und dies ist zu loben.“
Des hohen Herrn der höchsten Sangesweise,
Der ob den Andern fliegt, ein Aar, allein.
Doch als sie grüßend sich zu mir gekehrt,
Da lächelte Virgil zu solchem Preise.
Indem sie mich in ihrer Schaar empfingen,
Als Sechsten, solchen Geisterbundes werth.
Sprechend, wovon ich schicklich schweigen muß,
Wie man dort schicklich sprach von solchen Dingen.
Von siebenfacher hoher Mau’r umfangen,
Und rings beschützt von einem schönen Fluß.
Ging’s weiter dann durch sieben Thore fort,
Und eine Wiese sah ich grünend prangen.
Mit großer Würd’ in Ansehn, Gang und Mienen
Und wenig sprechend, doch mit sanftem Wort.
Frei eine Höh’ im hellen Lichte glühn,
Vor welcher Alle klar vor uns erschienen.
Sah ich die großen, ewig Denkenswerthen,
Die heut mir noch in stolzer Seele blühn.
Aeneas, Hektorn hatt’ ich bald erkannt,
Cäsarn, den mit dem Adlerblick bewehrten.
Ich dort; zur andern Seite auch Latinen,
Der bei Lavinien, seiner Tochter, stand.
Lucrezien, Julien, Marzien, und, allein
Bei Seite sitzend, sah ich Saladinen.
Ich auch den Meister derer, welche wissen,[4]
Der von den Seinen schien umringt zu sein,
Den Plato ihm zunächst und Sokrates,
Die dort den Sitz vor Andern an sich rissen.
Den Demokrit, deß Welt der Zufall machte,
Den Zeno, Heraklid, Empedokles;
- ↑ 91. Jedem gebührt der Name des hohen Dichters, welchen die Stimme V. 80 aussprach. Aber ein eigner Werth macht sie geneigt zur Anerkennung fremden Werthes. Daher die schöne Zwischenscene, daß sie Alle Dante huldigend in ihren Kreis aufnehmen.
- ↑ 106. Unter den sieben Mauern, welche das Schloß umringen, verstehen die Ausleger theils sieben Tugenden, welche man ohne Glauben erstreben kann, theils die sieben freien Künste.
- ↑ 109. Warum gehen die Dichter trocknen Fußes (im Original: wie auf harter Erde) durch den schönen Fluß? Vielleicht um anzudeuten, daß dieser Fluß nicht wahrhaft benetzt, erfrischt und erquickt, daß [29] also auch diese Zierde des Orts kein Wesen hat, wie alle Dinge, die nicht durch den Glauben in Zusammenhang mit dem Ganzen und Ewigen gebracht werden. – Die dem Uebersetzer bekannten Erklärungen der Ausleger sind nicht minder gewagt, als diese, aber theils völlig flach theils dem ganzen Inhalte des Gedichts wenig entsprechend.
- ↑ 131. Der Meister – Aristoteles. Die übrigen Namen der im Texte angeführten griechischen und römischen Männer und Frauen lassen wir ohne Bemerkung, welche dem Kundigen, da sie nur sehr kurz sein könnte, nicht nöthig ist, dem Unkundigen aber nichts nützen würde. Daß Sultan Saladin, als zu ihnen nicht gehörig, allein sitzt, erklärt sich von selbst.
Alighieri, Dante. Streckfuß, Karl (Übers.). Pfleiderer, Rudolf (Hrsg.): Die Göttliche Komödie. Leipzig: Reclam Verlag, 1876, Seite 28 bzw. 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dante_-_Kom%C3%B6die_-_Streckfu%C3%9F_028029.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)