Vom Centrum der heutigen Stadtverwaltung führt uns der Weg nach dem Hauptmarkte und dem alten Rathause, dem Herzen der alten Stadt und ihres Regiments. Die Herausbildung des Marktverkehrs an dem im Schutze der Benediktinerabtei entstandenen, an der Kreuzung zweier uralter Verkehrswege gelegenen Orte Chemnitz und die Verleihung des Marktrechtes an diesen Ort durch Kaiser Konrad III. i. J. 1143, das waren die Keime, aus denen die Stadt Chemnitz erwachsen ist. An die uralte Kirche des heiligen Jakobus, die wohl mit der ersten Siedelung entstanden war, hatte sich der Marktverkehr angeschlossen, im nachbarlichen Schutz des Gotteshauses war der Markt entstanden, und wie sich aus dem Marktrecht das Stadtrecht und mit dem Stadtrecht das Stadt- oder Ratsregiment entwickelte, so entstand frühzeitig auch das Rathaus, sich anlehnend an die St. Jakobikirche, die Marktkirche, und hereinragend in den Markt. So ist der Marktplatz mit dem alten Rathaus die älteste und wichtigste Stätte, die Wiege gleichsam unsres Chemnitzer Gemeinwesens, und heute noch erzählt die Lage des alten Rathauses zur Kirche sowie zum Markte dem Kundigen von den ersten Anfängen der Stadt Chemnitz.
Wohl ist das Rathaus in seiner ältesten Gestalt schon längst verschwunden. War es doch ursprünglich ein wohl auf steinernen Grundmauern errichteter Holzbau, der erst am Ausgang des 15. Jahrhunderts einem völligen Steinbau wich. Wohl ist auch dieser Bau dann durch den grossen Brand vom 5. November 1617 wieder vernichtet und bald darnach durch einen äusserlich schlichtern Bau ersetzt worden; aber seine Grundanlage sowie seine innere Einteilung, ja sogar seine innerarchitektonische Ausschmückung hat sich das alte Rathaus die Jahrhunderte hindurch im allgemeinen bewahrt. Als es im Anfang der 80 er Jahre nach der Übersiedelung der städtischen Verwaltung in das neue Rathaus für seine nunmehrigen Zwecke umgebaut wurde, verlieh man daher dem alten Rathause seine heutige, architektonisch geschmückte Fassade, die den hervorragenden Resten der ehemaligen inneren, im Renaissancestil gehaltenen Ausschmückung entspricht. Denn noch heute bilden die schönen Sterngewölbe, die stattlichen, von jonischer Säule getragenen Kreuzgewölbe sowie die einzig in ihrer Art dastehende architektonische Durchbildung der inneren Fensterschäfte mit vorgestellten korinthischen Säulen die Freude jedes kundigen Beschauers, mag er nun im Eheschliessungssaal des Standesamtes, der vormaligen Ratsstube, als Zeuge fungierend, seine Aufmerksamkeit zwischen der feierlichen Amtshandlung und dem schönen Amtsraum teilen oder in Geldgeschäften die Räumlichkeiten der städtischen Sparkasse aufsuchen. Denn beide Zweige der städtischen Verwaltung, die I. Abteilung der am 1. Juli 1839 begründeten Sparkasse und das am 1. Januar 1876 eröffnete Standesamt I. bez. II., sind jetzt in den beiden Obergeschossen des ehemaligen Rathauses untergebracht.
Nicht wenig tragen zu dem altertümlichen Gepräge des Rathauses und Marktes die Lauben bei, jener in der verlängerten Front des Rathauses nach Osten laufende Gewölbegang, der noch heute demselben Zwecke dient, wie vor Jahrhunderten. Denn er ist aus den hölzernen, auf Pfeilern ruhenden Vorbauten des Rathauses und der Nachbargrundstücke hervorgegangen, über denen sich die Obergeschosse der Gebäude als sogenannte Überschüsse erhoben. Und wie vor mehr denn 7 Jahrhunderten schon in jenen luftigen, hölzernen Vorbauten, den Lauben, der Krämer seine Waren zur Schau ausstellte, so gehen die Chemnitzer auch unsrer Tage noch, jung und alt, viel und gern unter die Lauben, wenn es gilt, eine Neubeschaffung für die Hauswirtschaft zu bewerkstelligen oder einen Herzenswunsch der allzeit spiellustigen Jugend zu erfüllen.
Dem altertümlichen Aussehen des Rathauses und der Lauben entspricht auch die Umrahmung des Hauptmarktes. Zwar reicht keins dieser Gebäude in seiner äussern Fassade über das 18. Jahrhundert zurück, und nur einzelne, wie das neben dem ehemaligen Blauen Engel gelegene Haus No. 8 und das am Eingang zur Klosterstrasse gelegene Albanus’sche Haus No. 20, zeigen einen ausgeprägten, Rokoko- und Barockstil aufweisenden architektonischen Charakter. Ihre Gesamtheit aber verleiht dem Markte das Gepräge der Vergangenheit, aus deren Rahmen sich die grossstädtischen Verkaufsläden, der wogende Verkehr und am schönsten die drei Denkmäler wirkungsvoll abheben. Die Reiterstatue Kaiser Wilhelms I. und die Standbilder Bismarcks und Moltkes, im Hintergrunde das altehrwürdige
: Chemnitz am Ende des XIX Jahrhunderts in Wort und Bild. Körner & Lauterbach, Chemnitz ca. 1900, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Chemnitz_am_Ende_des_XIX_Jahrhunderts_in_Wort_und_Bild.pdf/26&oldid=- (Version vom 7.3.2025)