Streichquartett und dann wieder beiseite schiebt. Ob er es weiter verfolgt hätte, wäre ihm ein längeres Leben vergönnt gewesen, vermögen wir nicht zu sagen, obschon manche Skizzen und Entwürfe dafür sprechen. Aber wir sehen, daß der einsame, taube Beethoven dieses Problem erkannt hatte und es da aufgriff, wo die Nachkommen ein Jahrhundert später wieder anknüpften. Im Laufe dieses Jahrhunderts ist manche Fuge, manches ehrliche, gesunde polyphone Stück geschrieben worden – aber doch keines, das den melodischen Geist und Atem des polyphonen Stiles in sich gehabt hätte. Man benutzte nur das Schema der polyphonen Musikformen und spannte es in den Rahmen des harmonischen Empfindens, innerhalb dessen es natürlich jegliche stilbildende Eigenkraft verlor und lediglich als willenlose Formel wirkte. Dies gilt für die polyphone Musik von Mendelssohn bis zu Richard Strauß – sie ist bar jeglichen Geistes der Polyphonie, denn dieser Geist der Polyphonie dokumentiert sich darin, daß das Melodische als primäre Elementarkraft, das Harmonische lediglich als Folge und Zusammenfassung empfunden wird. Nur einige Erscheinungen der jüngsten Zeit machen hiervon eine Ausnahme: ich nenne Busoni mit seiner Fantasia contrappuntistica und Reger mit einem Teil namentlich seiner großen Orgelwerke.
Ich möchte nun aber das Problem der neuen Musik nicht dahin deuten, daß es etwa dahin zielte, unter Außerachtlassung der klassisch romantischen Kunst den Anschluß an die Ausdrucksart der Meister der Polyphonie zu finden. Dies wäre im Grunde nur eine besondere Art der Neuromantik, und dahin zielten auch keineswegs Beethovens Bemühungen. Es gilt vielmehr einen neuen melodischen Stil zu finden, der an bildender Kraft dem der alten polyphonen Kunst gleich ist, ohne ihn nachzuahmen, der ihm also nur der Art, dem Prinzip nach verwandt ist und nun, innerlich angeregt durch den formalen Reichtum der polyphonen wie der harmonischen Kunst, eine neue Art formbildender Kraft aus sich
Paul Bekker: Neue Musik. Stuttgart und Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1923, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bekker_Neue_Musik_Vortrag.djvu/026&oldid=- (Version vom 31.7.2018)