Dies ist natürlich sehr schroff formuliert. Aber wenn man die Klagen über das Nachlassen der melodischen Kraft, den Schrei nach der Melodie, der jetzt von allen Seiten ertönt, recht begreifen will, muß man sich klarmachen, daß die Entwicklung von der Zelt der Klassiker her eigentlich darauf ausgegangen ist, die Selbständigkeit des melodischen Formungsvermögens zu unterdrücken dadurch, daß es an das harmonische Formungsvermögen gebunden und diesem untergeordnet wurde. Wir können zu einer Erneuerung der melodischen Gestaltungskraft nur gelangen, indem wir uns von der harmonisch melodischen Denkweise der Klassiker wieder frei machen und versuchen, zu einem neuen Stil zu gelangen, in dem die Tragkraft der einzelnen melodischen Linie wieder das zeugende Element, der Zusammenklang aber das Erzeugte, die Folge ist.
Die Beschreitung dieses Weges zuerst mit nachdrücklicher Bestimmtheit versucht und uns dadurch von der Einseitigkeit des harmonischen bedingten Denkens und Empfindens befreit zu haben, ist das Verdienst Max Regers. Dieses geschichtliche Verdienst wird auch dadurch nicht geschmälert, daß Reger nur zu Teilresultaten gelangt und selbst in diesen selten über eine barocke Nachahmung seiner Muster hinausgelangt ist. Aber Reger war der erste, der in seiner Kunst wieder auf die Vergangenheit verwies, die für uns, sofern wir überhaupt an eine Vergangenheit anknüpfen wollen, die fruchtbringendste ist, der also über die klassisch romantischen Vorbilder hinaus an Bach anknüpfte. Gewiß, Bach ist zu allen Zeiten geschätzt und verehrt worden, Mozart und Beethoven haben ihm, soweit sie ihn kannten, gehuldigt, die Romantiker haben für ihn geschwärmt und ihn uns praktisch und theoretisch erschlossen – eine Erscheinung wie Bach bietet allen Kunstanschauungen unerschöpfliche Anregungen. Aber unsre Stellung zu Bach ist doch wieder eine ganz andere als die der früheren Generationen. Wir sehen in Bach nicht nur den großen
Paul Bekker: Neue Musik. Stuttgart und Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1923, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bekker_Neue_Musik_Vortrag.djvu/018&oldid=- (Version vom 31.7.2018)