sein: Aufmerksamkeit, gleichmäßig und den Organverknüpfungen mit der Außenwelt entsprechend auf die Umgebung gerichtet bei vollwertigem Organe, ungleichmäßig verteilt und je nach der Organüberkompensation gesteigert bei minderwertigen Organen; leicht erregbar, aber weniger ergiebig bei schlecht gelungener Kompensation, dürftig oder nicht vorhanden im Falle bleibender zentraler Minderwertigkeit. Schon bei diesem psychischen Phänomen finden wir die Unterschiede wieder, die seit langem als entscheidend für die Beurteilung von normalem Gehirn und der Neurose oder Neuropsychose angesehen werden, deren Fundierung aber erst unter Annahme der Organminderwertigkeitslehre geschehen kann. Wir wollen nun vorgreifend schon jetzt hervorheben, daß diese Studie dahin zielt, alle Erscheinungen der Neurosen und Psychoneurosen zurückzuführen auf Organminderwertigkeit, den Grad und die Art der nicht völlig gelungenen zentralen Kompensation und auf eintretende Kompensationsstörungen.
Die organischen Nervenerkrankungen aber sind nach unseren Voraussetzungen nur Spezialfälle, bei denen die lokalisierte Minderwertigkeit zu entzündlichen oder degenerativen Veränderungen neigt, die Kombination von organischen und funktionellen Affektionen, geradezu typisch für viele Krankheitsbilder, erscheint als notwendige Koordination. Der Einfluß der psychischen und hypnotischen Therapie läßt sich also leicht begreifen. Einige weitere Anführungen, den Unterschied von normaler psychischer Entwicklung und auf Überkompensation beruhender betreffend, sollen die Erinnerung und das Gedächtnis betreffen. Man darf dabei nicht aus dem Auge lassen, daß uns diese Begriffe nur das Sinnfällige aus dem Wesen der Psyche charakterisieren und daß die ihnen zugrunde liegenden Vorgänge eine psychische Kontinuität und psychischen Zusammenhang mit anderen Vorgängen, wie Empfindungen, Urteils- und Willensvorgängen, besitzen. Aber ebenso sicher ist ihr Zusammenhang mit dem äußeren perzipierenden und ausführenden Organe, dessen Relation zur Umgebung Art und Inhalt aller zentralen Vorgänge bestimmt. So kann man behaupten, daß jedem Organe seine Erinnerung, sein Gedächtnis im zentralen psychomotorischen Überbau zukommt, als eine Funktion dieses psychischen Feldes. Das minderwertige Organ betreffend ergeben sich bei Eintritt zentraler Kompensation oder Überkompensation funktionelle Steigerungen, deren eine als gesteigerte Gedächtnisleistung auffällig werden kann. Unter der Summe der Erinnerungsbilder werden dabei jene durch ihre Stärke und Menge vorwiegen, die dem minderwertigen
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 69. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/81&oldid=- (Version vom 31.7.2018)