und richtigzustellen. Was geschieht aber, wenn die Kompensation nicht gelingt, wenn der aus physischer Not — einerseits Insuffizienz des Organs, andrerseits Zwang zum Leben und zur Kultur — stammende psychische Antrieb auf ein untauglicheres Gehirnmaterial trifft, wenn die kompensatorische Leistung auf halbem Wege stecken bleibt? Aus dieser psychophysischen Relation muß sich naturgemäß ein Zustand hoher psychischer Spannung ergeben, der dazu führt, daß die Träger solcher Spannungen irgendwie gesteigerten Anforderungen nicht mehr gewachsen sind. Sie erleiden bei den geringsten Schwierigkeiten des menschlichen Lebens, bei Prüfungen, bei Schreck und Aufregung, bei allen Affekten unwillkürliche Harn- und Stuhlabgänge, fallen in einen jener Kinderfehler zurück, den sie mit Mühe verdrängt haben und die, wie ich bereits erwähnte, Fortsetzungen und Ausgestaltungen von gesteigerten Reflexäußerungen vorstellen, sie stottern, erbrechen, lachen, weinen, kratzen sich, raufen die Haare, fahren zusammen, sie blinzeln oder bekommen Nieskrämpfe bei hellerer Beleuchtung, schielen beim Nahesehen etc. Alle diese Erscheinungen sind im einzelnen zu gut bekannt, als daß ich sie durch Kasuistik belegen müßte.
Die Überwindung des Kinderfehlers also und aller der Schwierigkeiten, die dem minderwertigen Organ erwachsen, deuten auf kompensatorische Vorgänge im Überbau und waren uns bisher die Kinderfehler äußere Zeichen einer Organminderwertigkeit, so zeigt es sich jetzt, daß sie eigentlich — vergleichbar den Chladnyschen Klangfiguren — Richtungslinien aus dem Leben der Psyche vorstellen, Signale sind, welche die noch nicht geglückte Bewältigung peripherer und zentraler Minderwertigkeit anzeigen.
Bezüglich der Reflexanomalien im minderwertigen Organ kann ich noch anführen, daß der mangelhafte Reflex durch das kompensatorische Wachstum der zugehörigen psychomotorischen Zone seinen psychischen Kontrast an die Seite bekommen kann, so daß beispielsweise der Gaumenreflex fehlt, eine Aufregung aber Würgen und Erbrechen nach sich zieht. Dieses Verhältnis ist nicht selten; ich führe, weil es bisher der Neurologie entgangen zu sein scheint, einige Fälle an:
Eugenie J., 46 Jahre alt, Lehrerin, ledig, war eines Tages kränkenden Äußerungen von seiten ihres Bruders ausgesetzt. Sie träumt in der Nacht, daß ihr der Bruder den Rachen mit einer Kerze ausbrennt, erwacht in Angst, schweißgebadet, spürt ein heftiges Pressen und Brennen im Schlund, in der Kehle und im Mund. Sie ringt nach Atem, glaubt den Verstand verloren zu haben und sucht sich zu überzeugen, ob nicht im Zimmer eine Gasausströmung stattgefunden habe. Dabei erbricht sie einige Male eine grünlich gefärbte wässerige Flüssigkeit. Gibt an, daß
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/79&oldid=- (Version vom 31.7.2018)