nur als qualitative empfunden werden, was sofort begreiflich erscheint, wenn man die drei wichtigsten Konstellationen aus Organ- und Nervenminderwertigkeit in ihren Ergebnissen nebeneinander stellt: Degeneration—Neurose—Genie. Die zu einer Kompensation unfähigen minderwertigen Organe fallen unter dem Einfluß der Außenwelt einem rascheren oder langsameren Verderben anheim. Andrerseits gestaltet die Natur aus minderwertigen Organen unter dem Einfluß von Kompensation Apparate von variablerer Funktion und Morphologie, die sich in vielen Fällen als durchaus leistungsfähig erweisen und den äußeren Verhältnissen zuweilen um einiges besser angepaßt sind, da sie ja aus der Überwindung dieser äußeren Widerstände ihren Kraftzuwachs bezogen haben, demnach die Probe bestanden haben. Zwischen diesen extremen Fällen liegen nun noch Mischbildungen und solche, bei denen die Kompensation nicht völlig durchzusetzen war, sei es infolge eines Mangels an Reservekräften oder infolge vorzeitiger Erschöpfung dieser Kräfte, Kompensationsstörung. Unter bestimmten Bedingungen entwickeln sich aus dieser Gruppe die Fälle von Neurosen und Psychoneurosen. Einige Anhaltspunkte sollen im folgenden noch berührt werden.
Funktionelle und morphologische Ausbildung des Organes und seiner Nervenbahnen sind, wie bei normaler Entwicklung, teils Folge der Reizaufnahme, teils Ergebnis des andauernden Strebens, das minderwertige Material leistungsfähig zu machen. In der Regel wird das Zentralnervensystem den Hauptanteil an dieser Kompensation nehmen. Und nicht nur physisch, etwa durch besondere Ausbildung der Nervenbahnen, Assoziationsfasern, durch Umwandlung eines hereditären Reflexmangels in Steigerung der Reflexfähigkeit, sondern vor allem auf psychischen Wegen dadurch, daß ein besonderes Interesse das minderwertige Organ zu behüten sucht und durch dauernde Aufmerksamkeit den Schaden zu verhüten trachtet, der vielleicht im kleinen jedesmal den Anstoß gibt, die Aufmerksamkeit zu wecken, zu steigern und an jenes Organ zu binden.
Eine weitere Verstärkung erfährt dieser psychische Antrieb, sobald das minderwertige Organ nicht mehr seinen eigenen Spuren folgen, sondern sich dem Joche der Kultur beugen soll. Wie dabei organische Triebe verändert, veredelt, psychisch ausgestaltet, oft in ihren polaren Gegensatz verwandelt werden — Vorgänge, die von Freud unter „organischer Verdrängung“ zusammengefaßt wurden —, soll noch beleuchtet werden.
Nun ist dies der Arbeitsweise des vollwertigen Organes gegenüber gehalten ohne Zweifel Mehrarbeit und wird sich als solche im
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/74&oldid=- (Version vom 31.7.2018)