Gründen verfochten werden soll, einer Auffassung, nach welcher den meisten Nierenerkrankungen eine ursprüngliche Minderwertigkeit des harnabsondernden Apparates zugrunde liegt.
Daß ein derartiger Zustand für viele Fälle anzunehmen ist und in der Nierenpathologie seine Rolle spielt, ist wohl allgemein anerkannt. Die Erscheinung genuiner Nierenerkrankungen kann durch die Annahme hypothetischer Stoffwechselgifte nicht zureichend erklärt werden. Vor allem ist es der pathologische Befund sowie der klinische Verlauf, die beide dem Bilde einer chronischen Vergiftung widersprechen. Fast mit der gleichen Schärfe wird diese Annahme durch die oft lange Dauer und durch das häufig hereditäre Auftreten widerlegt. Ebenso sind die Pubertätsalbuminurie, die renale Hämophilie, die Zystenniere, die Schwangerschaftsniere, die orthostatische Albuminurie und die mit chronischer Obstipation verbundene Albuminurie Hinweise, denen man sich kaum entziehen kann. Eine der mächtigsten Stützen aber für die den Nierenerkrankungen zugrunde liegende Minderwertigkeit des harnabsondernden Apparates ist die in der Nierenpathologie so häufig zu beobachtende Heredität. Höchstens kommt noch in Frage, ob einzelne dieser Albuminurien als Krankheiten zu nehmen sind. Die Schwierigkeiten in der Entscheidung dieser Frage sollen nicht geleugnet werden. Denn der Übergang von leichten Anomalien der Harnbeschaffenheit zu schweren Erkrankungsformen der Nieren ist noch nicht häufig genug beobachtet worden. Aber selbst langjähriger Stillstand der Erscheinungen oder Besserung, sei sie unter ärztlicher Behandlung oder ohne eine solche erfolgt, hat keinerlei Beweiskraft. Es kann nämlich mit Recht hervorgehoben werden, daß die Annahme einer Minderwertigkeit der Niere als Grundlage der Nierenerkrankungen, vom Standpunkte der Pathologie aus betrachtet, sehr viel Wahrscheinlichkeit für sich hat, daß der Übergang von Bildungs- oder Funktionsanomalie in Krankheit in der kürzesten Frist bewerkstelligt sein kann und es in vielen Fällen fraglich wird, wo für uns das Krankheitsbild beginnt. Die „physiologischen" Albuminurien spielen da die gleiche Rolle wie etwa die Zystenniere, die sich förmlich über Nacht als schwerer Krankheitsfall darstellen kann, nachdem sie längere Zeit symptomlos bestanden hat.
Durch eine derartige Betrachtung vom Standpunkte einer Minderwertigkeitslehre aus gelangen die oben gekennzeichneten Affektionen des Harnapparates erst an den ihnen gebührenden Platz in der Pathologie. Ihre Bedeutung im Rahmen der Nierenpathologie tritt durch den Nachweis einer ursprünglichen Minderwertigkeit klarer zutage. Gleichzeitig erweist es sich als notwendig, die Untersuchung auf konstitutionelle
Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/15&oldid=- (Version vom 31.7.2018)