dann billiger kommt“, decken oben klargelegte Gedankengänge, seine Furcht vor Geldausgaben im Falle seiner Potenz. Dieser Gedanke ist aber nur in einem Falle haltbar, wenn nämlich der Patient von der Überzeugung durchtränkt ist, er sei masslos in seinem Liebesdrang, kenne keine Grenzen und jage sinnlos den Frauen nach. Diese Überzeugung nun holt er sich tendenziös aus Erinnerungen der Kindheit, der Pubertät und des Mannesalters. Dabei hilft er auch der Gestaltung seiner kindlichen Inzesterinnerungen nach und bringt sie wie jeder Nervöse, wenn sie ihm taugen, in die Form, als ob er die Mutter oder die Schwestern in sexueller Absicht begehrt hätte. Das heisst, er arbeitet mit einer aus dem Endzweck abgeleiteten Fiktion, um sich zu sichern, ähnlich wie Sophokles die Ödipussage formt und ausgestaltet, um die heiligen Gebote der Götter zu festigen. Unser Patient ist ein williges Opfer seines mangelhaften Verständnisses für Dialektik, für die Gegensätzlichkeit des primitiveren Denkens geworden. Der leitende Gedanke seines Persönlichkeitsideals: ich darf Blutsverwandte nicht begehren, — enthält dialektisch den Gegengedanken von der Möglichkeit eines Inzests. Da der Nervöse sich sichern will, hält er sich an den Gegengedanken, spielt mit ihm, unterstreicht ihn und verwendet ihn in der Neurose wie alle erschreckenden Erinnerungen, die ihm für seine Sicherung nützlich erscheinen. Im Leben unseres Patienten und aller Nervösen hat es noch viel mehr Erlebnisse gegeben, die ihnen die Überzeugung hätten beibringen können, dass sie frei von Inzestregungen, dass sie überhaupt immer äusserst massvoll, vorsichtig und zaghaft waren. Da er sich aber sichern will, stossen sein Gedächtnis und seine neurotische, fälschende Apperzeptionsweise diese Züge tendenziös von sich. Er hat viel mehr Eindrücke davon, dass er die Mutter und die Schwestern nicht begehrte, — er kann sie aber zur Sicherung nicht verwenden. So bleibt ihm bloss eine Erinnerungsspur an ein vorbereitendes, spielerisches Unterfangen, und weil ihm dies als Warnung dienen kann, macht er daraus einen Popanz, mit dem er sich erschreckt. Genau in der gleichen Weise entstehen die neurotische Angst, die Platzangst, Hypochondrie, Pessimismus und Zweifelsucht, indem die Patienten bloss die zur Sicherung dienenden Eindrücke und Erlebnisse heranziehen, die ihre Affektlage verstärken, und die übrigen speziell die entgegengesetzten entwerten. Die Fähigkeit der Sophisten, von jedem Ding „in utranique partem dicere“, hat auch der Nervöse und der Psychotische, und sie verwenden sie je nach Bedarf.
Die scharf zugeschliffenen, tendenziös verstärkten Bereitschaften des Nervösen und die ihnen beigeordneten neurotischen Charakterzüge bringen es mit sich, dass jede neue Situation verwirrend wirkt. (Lombrosos Misoneismus.) Am meisten fürchtet unser Patient die ihm unbekannte Situation der Sexualbefriedigung und des gelungenen Koitus, weil er sich in dieser vorausempfundenen Situation — aus Sicherungsgründen — als den unterliegenden Teil gesetzt hat. Nun stellt diese Furcht, die als Furcht vor der Impotenz empfunden wird, eine weitere Sicherung dar gegen die Möglichkeit, von der Frau gefesselt, festgehalten, betrogen zu werden, ihr nicht gewachsen zu sein, gegen eine Rolle, die seinem männlichen Ideal widerspricht, und die er deshalb als weiblich wertet. Aus harmlosen ubiquitären Zügen der Selbstsucht, des Geizes und der Sparsamkeit, arrangiert er eine tiefgreifende,
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/80&oldid=- (Version vom 31.7.2018)