auch von einer höheren Intensität der Selbstbeobachtung begleitet. Zuweilen ist in einer Situation psychischer Unsicherheit die personifizierte, vergöttlichte Leitidee als zweites Selbst, als innere Stimme analog dem Dämon des Sokrates warnend, anfeuernd, strafend, beschuldigend anzutreffen. Und was uns der Neurastheniker, der Hypochonder gar berichten, wie sie im eigenen Innern wühlen, wie scharf sie alle Akte ihres Lebens kontrollieren und begleiten, gilt für den Nervösen überhaupt. Die Selbstbeobachtung kann zur Abgrenzung des Kampfplatzes führen, indem sie sich der Ausserungen von Krankheitsfurcht bedient, wobei der Nervöse jederzeit in der Lage ist, den sichernden Rückzug anzutreten. Sie muss als wirksam gedacht werden, wenn die primitiven Sicherungen der Angst, der Scham, der Schüchternheit, die komplizierteren des Schamgefühles, des Gewissens, der nervösen Anfälle, die Ahnung einer Niederlage begleiten, um das Persönlichkeitsgefühl nicht unter das geforderte Niveau sinken zu lassen. Selbstbeobachtung und Selbsteinschätzung, immer von der leitenden Fiktion gereizt und verstärkt, damit eine Operationsbasis geschaffen und die Aggression eingeleitet werde, aktivieren sofort die nervösen, prinzipiellen Charakterzüge des Neides, Geizes, der Herrschsucht etc. — Im fortwährenden Messen und Ringen des Nervösen um seine eigene Geltung, gegen die Geltung des Anderen, spielt seine gesteigerte Selbstbeobachtung mit, sie gibt dem Vorausdenken und der Phantasie Winke, und verkündet ihre Anwesenheit, wenn der Patient der Entscheidung ausweicht oder zu dem gleichen Zwecke sich dauernd dem Zweifel ergibt. Dass alle diese Selbstbeobachtungen aus dem Gefühl der Unzulänglichkeit stammen und von diesem erzwungen werden, ist ebenso leicht zu verstehen, als dass sie schliesslich ihr Ziel erreichen, auf das sie eigentlich hingearbeitet: die Vorsicht. So ist die Selbstbeobachtung im selben Masse Verzögerung, Egoismus, Grössenwahn, Treppenwitz, Zweifel, Kleinheitswahn, und berührt sich mit allen anderen Phänomenen, die vom Gefühle der Minderwertigkeit aus angeregt werden; insbesondere dient sie zur Verstärkung und Kontrolle der „männlichen Protestcharaktere“ wie Mut, Stolz, Ehrgeiz etc., ebenso auch zur Vertiefung aller Sicherungstendenzen wie der Sparsamkeit, der Genauigkeit, des Fleisses, der Reinlichkeit. Sie beeinflusst die Aufmerksamkeit und dient auch zur Beherrschung derselben, so dass sie im Netz der Sicherungstendenzen eine hervorragende Stellung einnimmt. Ihre Ergebnisse allerdings sind tendenziös gefälscht. Es wäre weit gefehlt, sie als libidinös oder lustbringend anzusehen. Ihre Funktion ist vielmehr, alle Eindrücke der Aussenwelt zu gruppieren und unter einen einheitlichen Text zu bringen, dergestalt, dass die primäre Unsicherheit des Individuums sozusagen mathematisch oder statistisch, nach Massgabe einer Wahrscheinlichkeit vor Entlarvung gewahrt bleibe, dass das Individuum einer Niederlage entgehen könne. In der „Neurotischen Disposition“ (l. c.) habe ich zum ersten Male diese Dynamik der Neurose hervorgehoben, und die Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist es, sie vertieft und erweitert darzustellen. Die geweckte und vertiefte Selbstbeobachtung liegt also auf dem Wege zur Neurose, mag sie auch in der Philosophie, Psychologie und Selbsterkenntnis zuweilen herrliche Früchte tragen. Sie ist die von der Realität der Welt durch einen Fehlschuss sich entfernende Privatphilosophie des Neurotikers,
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/57&oldid=- (Version vom 31.7.2018)