Frauen (meistens auch über alle Männer) verspricht. Dadurch wird frühzeitig seine Haltung zu den Frauen bestimmt. Er wird stets Neigung zeigen, seine Überlegenheit über die Frau durchzusetzen, wird das weibliche Geschlecht entwerten und erniedrigen, wird — bildlich gesprochen — die Hand auf die Mutter legen, was sich bei neurotisch disponierten Kindern oft auch in einer Geste oder in ihrer psychischen Attitude zeigt, und wird in spielerischer Weise von der Mutter das Abbild nehmen, um sich diesem gegenüber in die männliche Rolle einzufühlen. Es ist schon ein neurotischer Zug, wenn derartige kindliche Bereitschaftsstellungen erstarren, wenn ein pedantisches, prinzipielles Verhalten deutlich wird, und wenn die gereizte Herrschsucht des Kindes nach ähnlichem Entgegenkommen sucht, nach der gleichen Sicherheit seines Persönlichkeitsgefühles, die es bei der Mutter gefunden hat. Nur von dieser neurotischen Starre des Unsicheren gilt Nietzsches Behauptung, dass „jedermann ein Bildnis des Weibes von der Mutter her in sich trägt, von dem er bestimmt wird, die Frau überhaupt zu verehren oder sie gering zu schätzen oder gegen sie im allgemeinen gleichgültig zu sein.“ Doch müssen wir zugeben, dass diese in der Mehrheit sind. Unter ihnen sind viele, die sogar von der Mutter verschmäht wurden, seither jeder Frau gegenüber die gleiche Herabsetzung befürchten oder ein Übermass von Hingabe verlangen.
Es gibt im Leben und in der Entwickelung des Menschen nichts, was mit solcher Heimlichkeit ins Werk gesetzt wird wie die Errichtung des Persönlichkeitsideals. Wenn wir nach der Ursache dieser Heimlichkeit fragen, so scheint der wichtigste Grund in dem kämpferischen, um nicht zu sagen feindseligen Charakter dieser Fiktion gelegen zu sein. Unter fortwährendem Abmessen und Abwägen der Vorzüge Anderer ist sie entstanden und muss demnach — nach dem ihr zugrunde liegenden Prinzip des Gegensatzes — den Nachteil der Anderen bezwecken. Die psychologische Analyse des Nervösen ergibt stets die Anwesenheit der Entwertungstendenz, die sich summarisch gegen alle richtet. Die kämpferischen Neigungen[1] treten in der Habsucht, im Neid, in der Sehnsucht nach Überlegenheit regelmässig hervor. — Aber die Fiktion der Überwältigung Anderer kann nur benützt werden, in Rechnung kommen, wenn sie die Anknüpfung von Beziehungen nicht von vorneherein stört. Und so muss sie frühzeitig unkenntlich gemacht werden, sich maskieren, da sie sich sonst selbst aufhebt. Diese Verschleierung geschieht durch Aufstellung einer Gegenfiktion, die vor allem das sichtbare Handeln leitet, unter deren Gewicht aber die Annäherung an die Realität, und die Anerkennung ihrer wirksamen Kräfte vollzogen wird. Diese Gegenfiktion, stets gegenwärtige korrigierende Instanzen, bewerkstelligt den Formenwandel der leitenden Fiktion, indem sie ihr Rücksichten aufzwingt, soziale, ethische Zukunftsforderungen mit ihrem realen Gewicht in Anschlag bringt und so die Vernünftigkeit des Denkens und Handelns sichert. Sie ist der Sicherungskoeffizient der Leitlinie zur Macht, und die Harmonie beider Fiktionen, ihre gegenseitige Verträglichkeit, sind das Zeichen psychischer Gesundheit. In der Gegenfiktion sind die Erfahrungen und Belehrungen, die sozialen und kulturellen Formeln, die Traditionen der Gesellschaft wirksam. In Zeiten der Gehobenheit, der Sicherheit, der
- ↑ S. „Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose (l. c.).
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/50&oldid=- (Version vom 31.7.2018)