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Seite:AdlerNervoes1912.djvu/30

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Protest bedient sich weiblicher Mittel. Dass auch dieser Kunstgriff vom Willen zur Macht diktiert ist, geht aus den übrigen neurotischen Zügen hervor, die Herrschaft und Überlegenheit in der stärksten Form erstreben. Diese Apperzeption aber bringt den sexuellen Jargon in die Neurose, der als symbolisch aufgefasst und weiter aufgelöst werden muss.

Gleichzeitig oder dominierend findet man bei dem Neurotiker die Apperzeptionsweise nach dem räumlichen Gegensatz des „Oben-Unten“. Auch für diesen primitiven Orientierungsversuch, den der Neurotiker verschärft und stark hervorhebt, finden sich Analogien bei primitiven Völkern. Während aber leicht zu verstehen ist, dass das männliche Prinzip mit der Vollwertigkeit identifiziert wird, sind wir bezüglich der Gleichstellung des „Oben“ auf Vermutungen angewiesen. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass der Wert und die Bedeutung des oben befindlichen Hauptes im Gegensatz zu den Füssen in Betracht kommt. Noch wichtiger erscheint mir, dass die Wertschätzung des „Oben“ und seine Gleichstellung mit der Vollwertigkeit aus der Sehnsucht der Menschen stammt, sich zu erheben, zu fliegen, das zu leisten, was man nicht kann. Die universellen Flugträume der Menschheit und ihr gleichgerichtetes Streben sprechen wohl für diese Annahme. Dass im Congressus sexualis das „Oben“ mit dem männlichen Prinzip zusammenfliesst, ist sicherlich auch von Bedeutung.

Die Verstärkung der Fiktion in der Neurose verursacht eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf die vom Nervösen als wichtig erkannten Gesichtspunkte. Daraus ergibt sich die Einengung des Gesichtsfeldes als motorische und psychische Bereitschaft. Gleichzeitig tritt der verstärkte neurotische Charakter in Kraft, der die Sicherung durchführt, Fühlung mit feindlichen Gewalten nimmt und weit über die Grenzen der Persönlichkeit hinaus, über Zeit und Raum sich ausdehnend, als sekundäre Leitlinie dem Willen zur Macht Vorschub leistet. Der neurotische Anfall endlich, dem Kampf um die Macht vergleichbar, hat die Aufgabe, das Persönlichkeitsgefühl vor Herabsetzungen zu bewahren.

Aus der konstitutionellen Minderwertigkeit erwächst also ein Gefühl der Minderwertigkeit, das eine Kompensation im Sinne der Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls verlangt. Dabei gelangt der fiktive Endzweck zu ungeheurem Einfluss und zieht alle psychischen Kräfte in seine Richtung. Selbst aus der Sicherungstendenz erwachsen, organisiert er psychische Bereitschaften zu Sicherungszwecken, unter denen sich der neurotische Charakter sowie die funktionelle Neurose als hervorstechende Kunstgriffe abheben. Die leitende Fiktion hat ein einfaches, infantiles Schema, und beeinflusst die Apperzeption und den Mechanismus des Gedächtnisses.

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/30&oldid=- (Version vom 31.7.2018)