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Seite:AdlerNervoes1912.djvu/193

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ihr Leiden unumschränkte Herrin. Die Ärzte der Residenz aber hat sie in grosser Zahl herabgesetzt, indem sie trotz aller Mittel an der Migräne weiterlitt. Selbst Morphium versagte, was ich bezüglich der perversen Reaktion dieses Mittels in anderen Fällen zu beachten empfehle. Dass sie auch meiner Kur die grössten Hindernisse in den Weg stellte und mich bei allem offenen überschwänglichen Lob durch Beibehaltung der Schmerzen lange blosszustellen versuchte, bemerke ich nebenbei als Beitrag zur Beendigung der Kur. Die Patienten werden erst gesund, wenn sie dieses Motiv zur Festhaltung an ihrer Krankheit, den Arzt herabzusetzen verstehen.

Nebenbei will ich noch darauf hinweisen, dass nach meinen Erfahrungen der „religiöse Wahnsinn“, die Phantasien und Halluzinationen von Gott, Himmel und Heiligen, damit auch das Gefühl der Zerknirschung dahin zu verstehen sind, dass sie die infantilen Grössenideen dieser Patienten, sowie ihre Überlegenheit über die Umgebung auszudrücken versuchen. Oft knüpft sich ein feindliches Gefühl gegen die Umgebung daran, so, wenn sich ein Katatoniker von Gott befehlen lässt, dem Wärter eine Ohrfeige zu geben oder einen Nachttisch umzuwerfen, oder wenn er seine jüdische Verwandtschaft zur Taufe zu zwingen versucht. Der „Aufschwung“ beim Manischen, die Grössenideen beim Dementen sind Parallelerscheinungen und weisen auf das vergrabene Gefühl der Erniedrigung hin, das nach Überkompensation im Wahn verlangt.[1]

In der ärztlichen Praxis stösst man häufig auf Kinder, die den Weg der Aggravation und Simulation betreten, um sich einer Bedrückung durch die Eltern zu entziehen. Wie nahe diese Erscheinungen an Lügenhaftigkeit grenzen, ohne sich mit ihr ganz zu decken, leuchtet ohne weiteres ein. Auffällig ist aber dabei das deutliche Hervortreten organischer Minderwertigkeitszeichen, sowie das Vordringen der neurotischen Charakterbildung, somit der neurotischen Disposition. Als Beispiele seien drei Fälle von Beobachtungen bei neurotischen Kindern mitgeteilt.

Ein 7 jähriges Mädchen kommt wegen anfallsweise auftretender Magenschmerzen und Üblichkeiten in die Behandlung. Wir finden ein zartes, schwächlich gebautes Kind mit Struma cystica, adenoiden Vegetationen und vergrösserten Tonsillen. Die Stimme hat einen rauhen Beiklang. Auf Befragen gibt die Mutter an, dass das Kind öfters an Katarrhen mit Husten leidet, die sich auffallend in die Länge ziehen, ebenso an protrahierten Dyspepsien. Ihr jetziges Leiden hält seit ½ Jahr an, ohne dass je ein organisches Leiden nachweisbar wäre. Dabei ist der Appetit und Stuhl immer normal. Die Magenschmerzen hätten sich eingestellt, seit das Kind in der Schule sei. Ihr Fortgang in den Lehrgegenständen sei ein ausgezeichneter, die Lehrerin habe aber wiederholt ihrer Verwunderung über den auffälligen Ehrgeiz des Kindes Ausdruck gegeben. Gegen Ermahnungen sei sie sehr empfindlich und fühle sich der um 3½ Jahre jüngeren Schwester gegenüber stets zurückgesetzt. Was der Mutter besonders auffiel, war eine bedeutende Verlängerung der Klitoris, eine der Genitalanomalien, auf deren Bedeutung als Minderwertigkeitszeichen ich aufmerksam gemacht habe, und die später unabhängig von mir von Bartel und


  1. Paul Bjerro (Zur Radikalbehandlung der chronischen Paranoia, Wien u. Leipzig. Deuticke 1912) hat als erster in überzeugender Weise die Bedeutung von männlichem Protest und Sicherungstendenz in der Psychose ausführlich geschildert.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/193&oldid=- (Version vom 31.7.2018)