Eine andere Form der Selbstquälerei stellt sich als Tendenz zur Bussfertigkeit dar. Man kann sie schlicht als Sicherungstendenz erkennen, wenn man versteht, dass diese Patienten ebensowenig wie jene mit den verwandten Empfindungen der Reue an dem Vergangenen etwas ändern oder bessern wollen.
Das Symptom zielt also klar auf die Zukunft, und dies ebensowohl wenn sie sich als persönliche Regung in individueller Form und Handlung, als wenn sie sich gesellschaftlich in religiösen Verrichtungen kundgibt. Wie bei allen Sicherungstendenzen ist auch durch sie keineswegs ausgeschlossen, dass neuerlich schlechte Handlungen und Gedanken zutage treten, sie soll vielmehr als einschränkende Warnung wirksam werden und als tiefinnerlicher Beweis für die wertvolle Gesinnung des Handelnden. Nicht zuletzt liegt der Antrieb zur Bussfertigkeit in diesem Sichaufsichselbstbesinnen und in der Hervorhebung innerer Werte, wobei immer der Gegensatz zu Anderen gedacht ist, so sehr, dass zuweilen die Bussfertigkeit und Reue eine stark gegensätzliche, trotzige, kämpferische Note aufweisen. Der epidemische Charakter von Bussübungen insbesondere entbehrt fast nie dieses auffälligen Prunkens, man überbietet sich im Schreien, Weinen, in Selbstquälereien und in der Zerknirschung.
Die Möglichkeit also, sich durch büsserische Veranstaltungen, wie Fasten und Beten, in Sack und Asche zu gehen etc., ein Gefühl der Überlegenheit zu sichern, wird leicht einen Anreiz für schwächere Seelen abgeben, sobald sie geneigt sind, fromm und gut, religiös und erhaben zu identifizieren. Und die Askese wird zur Erhebung führen, wenn sie als Triumph, in meinem Sinne als männlicher Protest empfunden wird. Dass es dabei nur auf die willkürliche Wertung ankommt, bei der häufig der Gegensatz zu sonst überlegenen Personen als Ausgangspunkt genommen wird, zeigt sich auch beim Widerpart des Gottesfürchtigen, beim Atheisten, streitbaren Freigeist und Bilderstürmer, die in gleicher Weise ihre Überlegenheit zu dokumentieren suchen. In diesem Sinne ist die Äusserung Lichtenbergs zu verstehen, dort wo er anmerkt, wie selten die Leute seien, die nach den Satzungen ihrer Religion leben, und wie häufig, die für ihre Religion streiten und kämpfen. Der Umschlag vom stürmischen Freigeist zum Orthodoxen ist nicht selten, ebenso von der Sinnenlust zur Askese.
Neben der Sicherungstendenz in der Bussfertigkeit spielt also der männliche Protest als Wegweiser eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wir sind aber noch genötigt, ihr Baumaterial, die in der Psyche gelegenen Möglichkeiten ins Auge zu fassen, deren sie sich bedient, um Ausdruck zu werden. Es ist keine Frage, dass Unterwerfungshandlungen und -Gedanken dabei zutage treten, masochistische, in unserem Sinne weiblich gewertete Elemente der menschlichen Psyche. Wie unverträglich diese mit dem Menschheitsbewusstsein sind, und wie sie stets eine Korrektur in der Richtung des männlichen Protestes erfordern, dass sie also pseudomasochistische Erscheinungen sind, geht daraus hervor, dass diese Unterwerfung mit einem Aufschwung, mit einer Erhöhung verbunden ist. Die Kraftlinie geht also auch in diesem Falle von unten nach oben, denn der Bussfertige fühlt sich erhoben oder gereinigt, er spricht mit seinem Gotte, er steht ihm näher als Andere, als sonst. Und es
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/191&oldid=- (Version vom 31.7.2018)