die Unsicherheit ihres Triumphes, die Anziehung, die von der Frau erfolgt, als bedrohlich, als gefährlich, als Zwang betrachten und ihre Liebesempfindung als Hörigkeit und Unterwerfung. Wobei die Realien dieser Beziehungen von mir keineswegs geleugnet werden. Für eine noch so nüchterne Untersuchung besteht in der Liebe eine gegenseitige Anpassung, Unterwerfung, — wenn man will. Diese aber herauszufühlen, sie als bedeutsam zu empfinden und darüber sich der genussvollen Hingabe zu entschlagen, zeugt in eindeutiger Weise von dem unerbittlichen Geltungsdrange der Betroffenen, den wir als neurotische Überkompensation ihres neurotischen Minderwertigkeitsgefühls oftmals nachgewiesen haben. Passende Bereitschaften auszubilden verbietet das Leitziel, oder gestattet sie nur in der Form einer masslosen, masochistischen Übertreibung, die selbst wieder zur Sicherung verwendet wird.
Zuweilen sucht dieser Geltungsdrang, sobald die eigene Sexualspannung als Übermacht des Partners empfunden wird, andere Wege: es erfolgen Wünsche und Versuche, sich dieser Macht durch Übersättigung, durch Orgien zu entziehen. Selbst Kastrationswünsche und -Absichten, im gleichen Mechanismus asketische und Bussübungen, Flagellationen etc. tauchen auf, gefördert von der unerbittlichen Sicherungstendenz, um vor dem Dämon Liebe Ruhe zu gewinnen. Nicht anders lassen sich starke, immer wiederkehrende Perversionen, insbesondere masochistische Äusserungen verstehen, die ein Ausdruck sind für die Nötigung, sich selbst von der unheimlichen Stärke des Partners im Einzelnen zu überzeugen, um diese Überzeugung von der Stärke des Anderen und von der eigenen Schwäche als Schreckpopanz im Ganzen aufstellen zu können. Das reale Ergebnis aus diesen Grenzberichtigungen des Nervösen ist eine starke Abweichung von der normalen Linie, die zu allermeist gefürchtet wird. Die arrangierte Selbsterniedrigung setzt aber den stärkeren Reiz für den männlichen Protest, und steigert ihn im Sinne des fiktiven Endziels. „Nacht muss es sein, wo Friedlands Sterne strahlen.“ Nun gehen seine Versuche nach diesen Umwegen wieder entlang der neurotischen Leitlinie, zeigen sadistische Einschläge, grossen Reinlichkeitsfanatismus, wo etwa Gedanken oder Tatsachen der Koprophilie z. B. vorliegen. Oder der Patient begnügt sich, im Kampfe gegen das Urteil der Anderen, gegen das Gesetz, durch Aufwand einer oft unerhörten Logik den Schein der Berechtigung für seine neurotischen Umwege zu erwecken, so dass auf diese Weise seine Überlegenheit wieder zur Geltung kommt. So auch bei der Argumentation der Homosexuellen, die in gleicher Weise ihrer Furcht vor dem anderen Geschlecht die neurotische Abbiegung von der Norm verdanken.
Das zu wahrende Prestige, der männliche Protest wird stets eindringlich in den Vordergrund geschoben, bis die aufklärende Analyse zu jenem Punkte gelangt, wo in den Erinnerungen des Mannes die neurotisch gruppierten Gedanken zutage treten, seine Minderwertigkeit, die Kleinheit seiner Genitalien, werde ihn am Siege über die Frau hindern; in den Erinnerungen weiblicher Patienten vertritt die gleiche Stelle das Gefühl der Inferiorität, der neurotische Schrecken vor der weiblichen Rolle. An diese wiedereröffneten Gedankengänge, die aus den frühesten Jahren der Kindheit stammen, sieht man unmittelbar Grössenideen angeschlossen, oft in der Maske des Narzissismus und Exhibitionismus. Man kann sie leicht als vorbereitende Versuche zur
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/181&oldid=- (Version vom 31.7.2018)