herabsetzende Distanzwirkung seines fiktiven Finales eingeleitet und[WS 1] protegiert. Sie gibt die geeignete Basis ab, um den Kampf gegen den Partner weiterzuführen, jede Gelegenheit zu seiner Erniedrigung wahrzunehmen. Und dies waren doch die nächsten Ziele der alten Bereitschaftsstellungen.
Unbewusst schwebt die Furcht vor dem geschlechtlichen Partner in der Seele des wachsenden Neurotikers, als ahnte er für diese kommende Zeit das Ende seiner männlichen Fiktion und damit die Vernichtung seines Persönlichkeitsgefühls, des Leitsterns seiner Unsicherheit im Chaos des Lebens. Er stellt Ideale auf, um die Wirklichkeit zu entwerten. Er schraubt sein Persönlichkeitsgefühl oft in narzissistischer Weise so hoch als möglich, um jeden Partner klein erscheinen zu lassen. Er umgibt sich mit der Mauer des krassesten Egoismus, um den Beweis seiner Untauglichkeit sich und Anderen zu liefern. Er arrangiert in neurotischer Weise Zweifel, Unsicherheit, Ungeschicklichkeit, hält alte Kinderfehler aufrecht, konstruiert neue Mängel, um nicht anzukommen. Und er erdichtet Schwäche, Unterwürfigkeit, masochistische Regungen, um sich zu erschrecken. Die Macht des Sexualtriebs wird ihm zur „überwertigen Idee“ (Wernicke), weil er sie braucht, und er empfindet sein eigenes Sexualverlangen als die Überlegenheit des anderen Geschlechtes. Der Nervöse ist zur Liebe unfähig, nicht weil er seine Sexualität verdrängt hat, sondern weil seine starren Bereitschaften an der Linie seiner Fiktion, an den Linien zur Macht liegen. Die nervösen Karikaturen des Don Juan, der Messalina sind trotz ihrer Sexualität Neurotiker. Die Invertierten aber und Perversen sind bereits der ihnen drohenden Klippe ausgewichen und versuchen nur mehr aus der Not eine — Tugend zu machen. Und wo scheinbar der Inzestgedanke eine Hemmung des Liebeslebens bewirkt, konnten wir zeigen, dass er eine sichere Zuflucht des vor der Entscheidung bangen Nervösen bedeutet, den sichernden Weg zur Mutter oder zum Vater, eingekleidet in ein sexuelles Gleichnis.
Besser gelingt die Flucht vor dem Partner, insbesondere die Flucht vor der Frau den nervös disponierten Menschen, die frühzeitig den Weg in einen Beruf, in eine künstlerische Betätigung gefunden haben. Wohl kann sie mitten in ihrer Arbeit die Furcht vor der Entscheidung, vor der Zukunft, vor dem Leben, vor dem Tode ereilen, wenn ihnen eine weibliche Rolle, eine Niederlage droht. Oft aber findet der Nervöse in befriedigender Arbeit das Mittel, sein Selbstgefühl zu sichern, oder seine Begabung gibt ihm im Formenwandel der Fiktion Gelegenheit, in der Kunst nach der Palme der Männlichkeit zu ringen. Nicht selten schlägt dann als Motiv und Inhalt seines Schaffens durch, was ihn in die sichernden Gefilde der Kunst getrieben hat: die Macht des Weibes, die Furcht vor der Frau.
In dieser Richtung liegt der grossartige, wirkende Zauber, der aus vielen Mythen, aus Schöpfungen der Kunst und Philosophie zu uns spricht: die Schuld der Frau, — das banale cherchez la femme, — an allem grossen Unheil. Bizarr malt sich der Gedanke bei Baudelaire: „Ich kann mir eine Schönheit ohne ein damit verbundenes Unglück gar nicht vorstellen,“ mystisch und erhaben im Evamythos, dessen Spuren in der Poesie nie vergangen sind. Die Iliade baut sich auf
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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/178&oldid=- (Version vom 31.7.2018)