Eine bei Nervösen häufige Erscheinung betrifft ihre prinzipielle Haltung in der Frage der Pünktlichkeit. Gemäss unseren Auseinandersetzungen über die nervöse Pedanterie ist die Erwartung berechtigt, man werde unter den Patienten ziemlich viele pünktliche Menschen treffen. Es ist in der Tat so. Man kann aber dabei leicht die Beobachtung machen, dass gerade diese Patienten mit dem Gedanken spielen, wie es wäre, wenn sie den Anderen warten liessen, ein Gedankengang, der den Gegensatz zum Anderen andeutet. Immerhin bleibt in dieser Attitude der Pünktlichkeit soviel Aggression übrig, dass diese Patienten mit grosser Schärfe von allen die gleiche Pünktlichkeit fordern, infolgedessen oft in die Lage kommen, ihre Griffe und neurotischen Anfallsbereitschaften bei der Unpünktlichkeit Anderer zu aktivieren. — In anderen Fällen findet man, dass der Stolz es gebietet, regelmässig zu spät zu kommen, was dann, wenn Andere warten müssen, unter einer Flut von mehr weniger haltbaren Entschuldigungen, als Erhöhung des neurotischen Persönlichkeitsgefühls empfunden wird. Dieses „Zuspätkommen“ eignet sich ganz besonders dazu, die Furcht vor Entscheidungen zu ersetzen. Die Gesellschaftsfähigkeit wird in erster Linie bedroht, und ebenso sind Berufspflichten sowie Beziehungen zu Freunden und geliebten Personen bald wieder ausgeschaltet. Ermahnungen sind gänzlich fruchtlos, denn die trotzige Attitude erfasst sie nur als Bestärkungen in ihrem Verharren. Der Nervöse kann mit seinem ewigen Zuspätkommen die Situation beherrschen und seine Angehörigen vor ein unlösbares Problem stellen. Die Auswahl dieser Charakterlinie erfolgt oft nach einer gesuchten Analogie: „weil ich auch unter meinen Geschwistern zu spät, als der Zweite, als der Letzte zur Welt gekommen bin“, „weil ich nicht später gekommen bin, an Stelle eines jüngeren Bruders, einer Schwester“! — Man sieht wie durch ein neurotisches Junktim, — Minderwertigkeitsgefühl und Geburtenabfolge der Geschwister, — eine breite dauernde Operationsbasis zum Kampfe um die Überlegenheit geschaffen wird. — Patienten, die überall zu früh kommen, zeigen auch sonst immer den Charakterzug der Ungeduld. In einem Gefühl der Verkürztheit fürchten sie immer wieder neue Verluste, und sichern sich, indem sie fest an ihren „schlechten Stern“ glauben. Auch bei diesen Nervösen findet man oft als Gegenspieler einen älteren Bruder, mit dem sie wie in einem Wettlauf begriffen sind, eine analogische Fiktion, keineswegs aber die ursächliche Veranlassung zu ihrem Verhalten.
Auch fiktive Erstgeburtsrechte werden für später geborene Kinder oft ein Antrieb zur Erhöhung ihrer Persönlichkeitsidee, wie überhaupt
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/167&oldid=- (Version vom 31.7.2018)