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Seite:AdlerNervoes1912.djvu/161

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Schuldgefühlen und Gewissensbissen. Nun werden stärkere Sicherungen angebracht, neue neurotische Symptome und Umwege konstruiert, die neurotischen Charakterzüge werden prinzipieller und abstrakter und das entwickelte Bild der Neurose tritt hervor.[1] Damit ist die Revolte zur Erzielung eines höheren Persönlichkeitsgefühls richtig angezettelt; die Einleitung dazu bildet das Kranksein selbst und die Krankheitsbereitschaft, die in irgendwelcher Weise der Umgebung gegenüber als Machtmittel ausgenützt wird. —

Eine 21jährige Patientin kommt wegen schwerer Depression Schlaflosigkeit und Zwangsgedanken, dass sie sterben müsse, in Behandlung. Es erweist sich, dass sie immer neurotische Charakterzüge gehabt hat. Die Zwangsneurose brach aus, als es mit einer Beziehung zu einem Manne, der sie heiraten wollte, ernst wurde. Diese typische pathogene Situation bringt das neurotische „Nein“ zutage, und während Patientin ihre Vorbereitungen zur Ehe trifft, mit ihrem Jawort nicht zögert, arrangiert sie die Neurose und benimmt sich so, als ob sie nicht heiraten wollte. In allen diesen überaus häufigen Fällen ist der nächste Schritt ein Junktim, das also lautet: Wenn ich gesund werde, meine Zustände verliere etc. (bei Männern oft: wenn ich potent werde) so werde ich heiraten. Durch dieses Junktim, das einem Schwanken, einem Zweifel, einer besonderen Vorsicht gleichwertig ist, entschlägt sich der Patient aller Verantwortlichkeit, hat den Riegel bis auf weiteres heimlich vorgeschoben, kann aber so tun, als ob er ganz gerne die Türe öffnen wollte. Die Züge des Misstrauens, der Rechthaberei, Herrschsucht und des „Obenseinwollens“ treten in der Analyse deutlich hervor, und man kann leicht wahrnehmen, dass die Furcht, dem Partner nicht gewachsen sein, die Bedrohung des Überlegenheitsgefühls in der Liebe oder Ehe, den heimlichen Rückzug verlangt und das neurotische Symptom konstruiert. Nicht selten findet man eine tendenziöse Wertung der eigenen Sexualität, von der ohne Beweis oder durch Zuhilfenahme von Erinnerungen, wie sie jedem zu Gebote stehen, oder auch durch Inszenierung von unbewussten Fälschungen der Eindruck gesucht wird, dass sie zu gering oder zu gross sei, als dass man eine Ehe riskieren könnte.

Die weiteren Mitteilungen der Patientin gingen dahin, zu erklären, sie könne nichts unternehmen, da bei allem der Gedanke auftauche, es sei ohnehin unnütz, da alle sterben müssen. Wie man sieht ein unsinniger Gedanke, der gleichzeitig sinnreich ist, vor allem aber Zeit und Entwicklung zum Stillstand bringt und der Patientin den Eintritt


  1. Während der Niederschrift fand ich einen mit grosser intuitiver Kraft geschilderten Typus dieser Art Menschen, bei denen das „Obenseinwollen“ besonders krass hervortritt in Alfred v. Berger’s Hofrat Eysenhardt, dessen Lekture ich allen Psychotherapeuthen empfehlen möchte. Man wird in dieser Schilderung den ganzen von uns gezeichneten Typus von einem Dichter geschaut wiederfinden. Der allzustarke Elan des Vaters, das Minderwertigkeitsgefühl des Knaben mit dem kompensatorischen männlichen Protest. — Steigerung des Sexualbegehrens, des Willens zur Macht, Vorbereitung zum Vatermord, Fetischismus, richterliche Laufbahn; — verstärkte Sicherungen bei einer Niederlage; — Konstruktion von Reue. Gewissensbisse, Halluzinationen und Zwangsvorstellungen als rachsüchtige Verwerfung des staatlichen Autoritätsgedankens; Verlust eines Zahnes und verstärkte Furcht vor der Frau als Ursache eines weiter gesteigerten männlichen Protestes und damit abermals das Arrangement gesteigerten Sexualbegehrens, — alles eindrucksvoll und durchsichtig, eine Schilderung des neurotischen Umweges, die an die Bilder Dostojewskys erinnert und keiner weiteren Erklärung bedarf.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/161&oldid=- (Version vom 31.7.2018)