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Seite:AdlerNervoes1912.djvu/153

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Wenn ich hier Züge zeichne, die allenthalben anzutreffen sind. — sie sind demungeachtet Züge der überall verbreiteten Nervosität und Zeichen einer tiefgegründeten Unsicherheit. Sie sind keineswegs in der menschlichen Natur gelegen, sind vielmehr Formen des missratenen männlichen Protests, der die Sicherung des Persönlichkeitsgefühls durchführen soll. Scheitert er auf einer Hauptlinie, so werden die neurotischen Umwege beschritten, und der „Ausbruch“ der Neurose oder Psychose erfolgt durch den Formenwandel und durch die Intensitätssteigerung der leitenden Fiktion.

Auch die angeborene Kriminalität des Kindes und des Verbrechers, wie sie Lombroso und Ferrero behauptet haben, muss ich leugnen, ebenso Stekels universelle Kriminalität des Nervösen.[1] Sie sind nichts anderes als Formen des durch das Minderwertigkeitsgefühl gesteigerten Aggressionstriebes, der sich der männlichen Leitlinie bedient. Der Umschlag in die deutlich sichtbare Neurose erfolgt durch Verlassen dieser geradlinigen Aggression. Wo die Furcht vor der Entscheidung ausbleibt, eine Frühfrucht der sichernden Neurose, und wo sich eine starke Entwertungstendenz gegen Leben, Ehre und Gut des Nächsten erhebt, entsteht das Verbrechen.[2]

In der entwickelten Neurose aber findet man die Erinnerungsspuren der Grausamkeit und der Kriminalität, ebenso wie die der Sexualität tendenziös übertrieben, falsch gruppiert und festgehalten. Durch die Imagination eines übertriebenen Gewissens und übertriebener Schuldgefühle wird der männliche Protest von der geradlinigen Aggression abgedrängt und auf konstruierte Bahnen der Weichherzigkeit gelenkt. Nur am Affekt, der zeitweise losbricht, in der Analyse des Anfalls, an gelegentlich hervortretenden Charakterzügen, wie so häufig bei Ausbruch einer Psychose und am Endziel der neurotischen Umwege und der aus der Richtung gedrängten Charakterzüge, an der Tatsache der Aufrichtung einer Herrschaft trotz aller Unterwerfung, der Quälerei anderer durch Selbstquälerei, und an den Beimengungen gelegentlich auftauchender, ursprünglicher und geradliniger Aggressionen merkt man, dass das alte überspannte Ziel besteht und nur ein Formenwandel der Fiktion die Richtung des Strebens auf andere, zuweilen scheinbar entgegengesetzte Wege gelenkt hat.

So können nach einer durchaus aggressiven Periode, in der Ahnung oder durch das Erleiden einer Niederlage, habsüchtige, brutale, gewalttätige Züge des Psychopathen durch die Errichtung einer fiktiven Instanz, des Gewissens, besser oder sogar allzu aufdringlich an die allgemeinen Leitbilder der Moral herangebracht werden, ebenso wie ja auch aus dem Minderwertigkeitsgefühl heraus die Linien des egozentrischen, bösen Wollens beschritten wurden. „So bin ich denn gewillt, ein Bösewicht zu werden“, — in dieser und ähnlicher Weise gestaltet sich nur unmerklich und unbewusst der fiktive Lebensplan vieler Neurotiker, bis ein Blick in den Abgrund den von jähem Schwindel Erfassten von den gefährlichen Stellen reisst und ihn zu stärkerer Sicherung zwingt als unbedingt nötig wäre. Das Gewissen baut sich unter dem Druck der Sicherungstendenz aus den einfacheren Formen des Voraussehens und der Selbsteinschätzung auf, wird mit den Zeichen


  1. Aggressionstrieb l. c.
  2. A. Jassny, Das Weib als Verbrecher. Archiv f. Kriminalpsychologie 1911, H. 19.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 145. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/153&oldid=- (Version vom 31.7.2018)