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Seite:AdlerNervoes1912.djvu/144

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an ihrer Person den Mangel oder die Mangelhaftigkeit des Genitales entdecken. Gewöhnlich findet man frühzeitig schon die Charaktere einer gesuchten Manngleichheit, oder das Suchen darnach steht im Vordergrund, während in vielen Fällen durch einen Einschlag von Hoffnungslosigkeit die „angeborene Farbe der Entschliessung“ angekränkelt ist. Da der direkte Weg zur Männlichkeit verschlossen ist oder verschlossen scheint, werden Umwege und Auswege gesucht. Auf einem dieser Auswege liegen die wertvollen sozialen Emanzipationsbestrebungen der Frau, auf einem ihr privater Ausdruck, die Neurose der Frau, die Konstruktion des ideellen männlichen Organs.

Es war bei dieser Patientin leicht zu sehen, dass sie in ihrer Kindheit die Beherrschung des Mannes anstrebte, der Brüder und des Vaters, da sie mit der Mutter scheinbar leicht fertig geworden war. Der Vater kam vollends in ihren Bann. Den wichtigen Schluss auf die Tendenz ihrer neurotischen Symptome kann man bei einiger Übung leicht machen: ihre Kopfschmerzen und ihre Migräne mussten seit ihrer Ehe Mittel zur Beherrschung ihres Mannes vorstellen. Und in dieser Beherrschung suchte sie einen Ersatz für die verloren geglaubte Männlichkeit.

Ich kenne den Einwand, der sich an dieser Stelle erheben wird. Wie, der schwere Jammer einer Neurose, die entsetzlichen Schmerzen einer Trigeminusneuralgie, Schlaflosigkeit, Bewusstseinsverlust, Lähmungen, Migräne, all dies sollte in Kauf genommen werden, um eines Zieles willen von der Hinfälligkeit einer Manngleichheit? Ich habe selber lange gegen diese sich mir aufdrängende Überzeugung gekämpft. Ist es aber viel anders, wenn Menschen ein Leben lang alle Pein ertragen um einer anderen Seifenblase willen? Ist der „Wille zum Schein“ (Nietzsche) nicht lebendig in uns allen, und lässt er uns nicht Übel aller Art ertragen? Und dann: auf diesem neurotischen Umwege zur Männlichkeit liegen auch, wie ich gezeigt habe, das Verbrechen, die Prostitution, die Psychose, der Selbstmord! Dies, und ferner noch den Hinweis auf die Unbewusstheit psychischer Mechanismen in der Menschenseele kann ich zugunsten meiner Auffassung anführen. Die von mir festgestellte Übertreibung in der Wertschätzung des männlich scheinenden Endzieles aber ist der sichere Grundpfeiler der psychischen Therapie der Neurosen. Und ich ziehe aus diesem Einwand gegenüber meinen Patienten die Nutzanwendung, dass ich ihnen zu zeigen mich bemühe, wie sie, vor die Wahl gestellt zwischen einer naturgemässen Rolle und dem neurotischen männlichen Protest, das grössere Übel von zweien gewählt haben.

Aus der Vorgeschichte unserer Patientin wäre noch anzumerken, dass sie stets eine Abneigung gehabt hat, mit Puppen zu spielen, ferner dass sie bis zu ihrer Verehelichung am Turnen und am Sport ihre grösste Freude hatte. Dass auch diese Bestrebungen im Dienste eines Ersatzes der Männlichkeit stehen, geht mehr als aus ihnen selbst aus dem Zusammenhang mit anderen „männlichen“ Zügen hervor, besonders aber aus einer Art Aufdringlichkeit, mit der Patientin davon erzählt. Auch Touristik betrieb sie leidenschaftlich, wovon ihr seit der Geburt eines Kindes, das sie bestimmt als männlich wünschte und erwartete, bloss noch eine grosse Neigung zum Reisen geblieben war.

Man muss nur den Fehler vermeiden, etwa anzunehmen, es seien die hier geschilderten, von der Patientin selbst hervorgehobenen

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 136. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/144&oldid=- (Version vom 31.7.2018)