Dem Traum gingen Gespräche und Erwägungen über „freie Liebe“ voraus. Das brennende Bett stellt nach der Auffassung der Patientin Liebesfreuden vor. Wir übersetzen unserer Traumauffassung gemäss: Wie wäre es, wenn ich der freien Liebe huldigen würde? Dann würde meine Mutter beschmutzt sein, ich aber würde sie auslachen, wäre ihr überlegen. — Man beachte den wie so häufig aus dem psychischen Überbau der Harnfunktion stammenden Ausdruck „brennen“ im Gegensatz zu „Wasser“ (Enuresis)[1], und die auf dieser „Urinsprache“ gegründete gleichnisweise Darstellung. Das „Lachen“ in diesem Traume ist gleichwertig dem „Weinen“ im ersten Traume. Beide zeigen die Aggressionsrichtung, die zur Niederlage der Mutter führen soll. Auch in dem Falle kann man die Unhaltbarkeit der Annahme einer Persönlichkeitsspaltung leicht ersehen. Ebenso irrtümlich wäre die Annahme eines realen Sexualwunsches. Nur wenn die Mutter dabei herabgesetzt wird, sie also die Rolle des herrschenden Mannes spielen könnte, wäre ihr dieses Mittel recht.
Die leitende Fiktion der Manngleichheit kommt bei allen Mädchen und Frauen in irgend einer Weise zum Ausdruck. Wie ich an obigem Falle zeigen konnte, ist es der durch die Realität erzwungene Formenwandel, der die Verschleierung des männlichen Protestes bewirkt. Ebenso ist es wesentlich, in der Analyse neurotischer Patientinnen jenen Punkt ihres Seelenlebens ausfindig zu machen, wo sie gegen ihr Gefühl der Weiblichkeit protestieren. Man wird ihn immer finden, denn der Drang nach Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls erzwingt die Konstruktion von sichernden Richtungslinien, die im Gegensatz zur Idee des „Weiblichen“ erbaut werden. Bei normalen Mädchen und Frauen liegen meist kulturelle oder unkulturelle Emanzipationsgedanken, kämpferische, gegen den Mann und seine Privilegien gerichtete Züge zutage. Man trachtet die Distanz möglichst zu verringern, in Kleidung, Haltung, Sitte, Gesetz, Weltanschauung. In allen diesen Beziehungen steigert sich der männliche Protest der Nervösen. In der Kleidung werden grelle, aber auch männlich einfache Moden, häufig Verlängerungen einzelner Stücke und stark erhöhte Schuhe bevorzugt. Oder alle als weiblich imponierende Arten der Kleidung werden abgelehnt. Häufig besteht ein besonders heftiger Kampf gegen das Mieder, der gegen die Fesselung gerichtet ist, aber auch anderen Zwecken dienen kann, der oft, um Gesellschaften auszuweichen, inszeniert wird und meist seine Spitze gegen den Gatten richtet. Haltung und Sitte neurotischer Frauen ist oft so deutlich männlich, dass es im ersten Augenblick auffällt. Übereinandergeschlagene Beine, gekreuzte Arme sind zuweilen verräterische Spuren, ebenso das Bestreben, auf der linken Seite, wo sonst der Mann seinen Platz hat, zu gelten, niemanden beim Stehen (z. B. im Traum) vor sich zu dulden etc. In der Weltanschauung der neurotischen Patientin wird die regelmässige ideelle Überschätzung des Männlichen durch die praktische Entwertung des Mannes reichlich aufgewogen. Im Sexualverkehr überwiegt die Anästhesie. Männliche oder den Mann herabsetzende Varianten werden bevorzugt.
Ähnliche Auftragungen bietet die neurotische Psyche des Mannes. Er leitet seine Griffe von einer fiktiven weiblichen Empfindung aus, um
- ↑ Adler, Studie, l. c. Anhang — Vor mir hat Freud den Zusammenhang von Feuer und Wasser im Traume berührt.
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/136&oldid=- (Version vom 31.7.2018)