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Seite:AdlerNervoes1912.djvu/134

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ein voller Mann, mutig, angriffslustig, offen, hartherzig, grausam zu sein, alle übertreffen wollen an Kraft, Einfluss, Macht, Klugheit etc. — Wenn das zugrunde liegende Minderwertigkeitsgefühl — wegen der mit Sicherheit vorauszusetzenden Niederlage oder Ahnung derselben — verstärkte sichernde Kompensationen verlangt, so erfolgen diese durch Verstärkung der Kampfbereitschaften, die nunmehr vielfach auf Umwegen, in abstrakterer Weise, durch gleichzeitige, oft gegenteilige Züge — nach Art eines Kunstgriffes — dem männlichen Gefühl der Überlegenheit zustreben. Dann kann der Nervöse anstatt Trotz oder neben diesem die Fügsamkeit, je nach Bedarf Züge von Masslosigkeit und Bescheidenheit, Roheit und Milde, Mut und Feigheit, Herrschsucht und Demut, Männlichkeit und Weiblichkeit aufweisen, die immer seiner Sicherung vor Niederlagen dienen, oder ihm gestatten, auf Umwegen sein Persönlichkeitsgefühl zu erhöhen oder Andere zu entwerten. Dass man auch mit der Schwäche, mit Demut, mit Bescheidenheit siegen kann, zeigt das Beispiel der Frauen und viele weltgeschichtliche Exempel.

Die Herrschaft der selbst gemachten Götzen, der leitenden Fiktion und ihrer Hilfslinien ist jedesmal leicht zu erkennen, dringt übrigens in der Psychose mit nicht misszuverstehender Deutlichkeit durch. Ich will an einem Traume eines 22 jährigen Mädchens, die an Enuresis nocturna litt, tagsüber häufig Ausbrüche von Jähzorn und Verstimmung hatte, nur mit mir, sonst nirgends Frieden halten konnte und häufig Suizidgedanken hatte, zu zeigen versuchen, wie alle diese Erscheinungen samt anderen Zügen von Herrschsucht, Trotz, aber auch Ängstlichkeit unter der Leitung des männlichen Protestes standen, wie dieser aber abhängig war von einer konstitutionellen Minderwertigkeit der Harnorgane, die im Zusammenhang mit Hässlichkeit und ursprünglicher Langsamkeit der geistigen Entwicklung zur kompensierenden Aufstellung einer übertrieben männlichen Leitlinie zwang. Um den Fall kurz und abschliessend verständlich zu machen, schicke ich voraus, dass die Patientin zur sichernden Neurose die Realien ihrer Kindheit verwendet, die Enuresis als Bereitschaft ausgebildet hatte und jedesmal mit diesem Symptom eingriff, wenn ihr Persönlichkeitsgefühl eine Herabsetzung erfuhr. Auch in diesem Falle zeigte sich die kolossale Macht der Entwertungstendenz im Arrangement des Anfalls, der die Mutter zu machtloser Verzweiflung trieb, zugleich aber auch in der allgemein üblichen Form eines Hinweises, durch den der Patient alle Schuld von sich ab und auf eine andere Person wälzt, diese dadurch erniedrigend. Der folgende Traum zeigt diese Spitze besonders deutlich;

„Die Mutter zeigt meiner Freundin die schmutzige Kappendecke des Bettes. Wir beginnen zu streiten. Ich sage: die Kappendecke ist von dir, — und fange heftig zu weinen an.“ Ich erwache tränenüberströmt.

Kurz vorher erzählte sie, dass sie oft weinend aus dem Schlafe erwache, ohne den Grund ihres Weinens zu kennen. Aus dem Zusammenhang der damals schon durchsichtigen Krankheitsgenese ergab sich, dass das Weinen in Beziehung zur Mutter von Bedeutung war, eine der üblichsten kindlichen Angriffsbereitschaften vorstellte, die Überlegenheit der Mutter zu verringern. Nach Mitteilung des Traumes bemerkt sie: „Sie werden gewiss glauben, dass Sie mit Ihrer Meinung bezüglich meines Weinens recht haben“. Solche

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/134&oldid=- (Version vom 31.7.2018)