Zum Inhalt springen

Seite:AdlerNervoes1912.djvu/128

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Auch bezüglich der obigen Abrundung einer psychischen Bewegung in eine Gehörshalluzination dürfen wir annehmen, dass starke innere Not zu einer grösseren Anspannung der Sicherungstendenz geführt hat, wofür das Wort „Eskadambra“ als der Patientin unverständlich und wertlos bloss ein Mass und Signal[1] vorstellen kann. Es ist aber die Erwartung berechtigt, dass ein eindringliches Verständnis dieses Wortes einen Sinn erkennen lässt, der uns den Seelenzustand dieses Mädchens verstehen lehrt. In der Regel ergibt sich das Verständnis für derartige Halluzinationen leicht, nicht schwerer jedenfalls als für kurze Traumbruchstücke. Über den Eindruck der Wortneubildung befragt, gibt Patientin an, sie erinnere sich dabei an „Alhambra“. Für dieses habe sie allerdings seit jeher viel Interesse gehabt; es bestand einmal prächtig, sei aber jetzt zerfallen, eine Ruine. Der Beginn des Wortes: „Esk“ finde sich in dem Wort: „Eskimo“, auch in „E(tru)sker“ seien diese Buchstaben enthalten. Der Volksstamm der „Basken“ fiele ihr noch ein; auch in diesem Worte kommt der grössere Teil von „Esk“ vor. Patientin zeigt damit den Weg, den sie bei der Wortneubildung gegangen ist, sie hat ein Bruchstück der Namen von Volksstämmen und das Bruchstück des Namens einer verfallenen Stadt zusammengefügt. Schliesslich bedeutete ihr „Alhambra“ auch nur ein Bruchstück, und so dürfen wir vermuten, dass der Gedanke des Gebrochen-, Verkleinert-, Verkürztwerdens in dem zu findenden Sinne der Halluzination auftauchen werde. Die Buchstaben: „skad“ gehören, wie Patientin leicht herausfindet, dem Worte: „Kaskaden“ an. Sie sei dessen sicher, denn bei ihrer vor kurzem stattgehabten Periode habe sie sich geäussert: „ganze Kaskaden“.

Berücksichtigt man, dass diese Patientin vor der Heirat steht, so versteht man ohne weiteres den Zusammenhang dieser Wortneubildung mit ihrer psychischen Situation. Dass sie nicht heiraten will, geht aus ihrer Neurose hervor, die ein brauchbares Hindernis abgibt[2]. In der Halluzination steckt eine abgebrochene Skizze von etwa folgenden Gedankengängen: Die Pracht meiner Jungfräulichkeit wird zerstört werden. — Ein neues Geschlecht (Volksstämme) soll ich gebären. Ganze Kaskaden von Blut werde ich opfern müssen.

Als ich mit der Deutung so weit war, half mir die Patientin weiter, indem sie erzählte, sie habe als 8 jähriges Mädchen gehört, dass eine Frau ihrer Bekanntschaft bei einer Geburt an Verblutung gestorben sei. Sie habe seither die Furcht vor dem Gebären niemals losgebracht.

Was ist nun der Sinn dieser Halluzination? Ist er mit dem Worte „Wunscherfüllung“ auch nur annähernd gekennzeichnet? Die ganze Zusammenstellung spricht dagegen. Der Sinn dieser Wortneubildung ist das Vorausdeuten in die Richtung einer zu erwartenden Gefahr, einer Erniedrigung, die Furcht, eine Ruine zu werden, wie sie oft die Mutter genannt hat, zu sterben, wie die Frau in ihrer Kindheitserinnerung.


  1. Wie man es auch bezüglich des Traumes annehmen muss, der die Spiegelung einer psychischen Bewegung im Bewusstsein vorstellt.
  2. Wie schon erwähnt, bildet die „Heiratserwartung“ einen der häufigsten pathogenen Anlässe zur Verschärfung der Neurose und zum Ausbruch von Psychosen. Gegenteilige Äusserungen solcher Patienten, wie: sie möchten ja gerne heiraten! — erweisen sich immer als „platonisch“.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/128&oldid=- (Version vom 31.7.2018)