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Seite:AdlerNervoes1912.djvu/116

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Endziel, sich aus dem hermaphroditischen Zustand (Dessoir) zu einem Manne zu entwickeln, lässt sich leicht überblicken, wenn man ihr knabenhaftes Gebaren als die Vorbereitung für ihre fiktive Erwartung versteht. Hierher gehört auch ihre Neigung Knabenkleider anzuziehen, eine Erscheinung, die, wie bei den Transvestiten Hirschfelds, aus der eben geschilderten psychischen Dynamik erfliesst. Besonders deutlich wurde ihr Leitbild in ihren kindlichen Phantasien und Tagträumen. In Anlehnung an Märchen und Mythen (Zwerg Nase, 1001 Nacht etc.) sah sie die mannigfachsten Verwandlungen mit sich vorgehen, glaubte sich bisweilen in eine Nixe oder in eine Meerjungfrau verwandelt, bei der — als für den besonderen Sinn bezeichnend — ein Fischschwanz die untere Körperhälfte beschloss. Zu dieser Zeit stellte sich auch im Zusammenhange damit ein deutlicheres neurotisches Symptom ein, sie konnte gelegentlich nicht gehen, als ob sie statt der Beine einen Fischschwanz hätte. Auch ein sich anschliessender Schuhfetischismus deutet in die männliche Richtung und entwickelte sich derart, dass sie grosse Schuhe, wir können sagen: männliche Schuhe tragen musste, weil sie sonst Fussschmerzen bekam. Aus Ovids Metamorphosen, die sie in ihrer Lesewut frühzeitig in die Hände bekam, entlehnte sie ein anderes Bild und liess es noch während der Behandlung in ihren Träumen auftauchen: wie sie sich derart verwandelte, dass der Unterkörper in einen festwurzelnden Stamm auslief. In dieser und ähnlicher Weise gab sie sich die Antwort auf die Frage nach ihrer zukünftigen Geschlechtsrolle.

Es wird uns in diesen und ähnlichen Fällen nicht überraschen, zu erfahren, dass auch ihre Stellung zum Weibe von ihrem männlichen Endziel beeinflusst wurde. In ihren Vorbereitungen für die Zukunft musste auch die Liebes- und Geschlechtsbeziehung ihren Platz haben, und so finden wir unsere Patientin denn auch bald als den ideell männlichen Beschützer einer jungen, zarten Schwester. Des Weiteren kamen insbesondere sadistische Akte gegen kleine Mädchen und Dienstmädchen, aber auch gegen zarte, weiblich geartete Knaben vor. So finden wir in der männlichen Leitlinie der Patientin eine Verschränkung von sekundären Zügen, unterstützende Hilfslinien der Homosexualität[1] und des (männlichen) Sadismus, deren Arrangement sich aus dem Ausbau der männlichen Bereitschaftsstellung ergab, und die als einzig möglicher Ersatz männlicher Sexualität von ihrer neurotischen, tendenziösen Apperzeption aus den Eindrücken des Lebens mit zureichendem Grunde ausgewählt wurden. Auch diese beiden Perversionen sind, wie noch auszuführen sein wird, Umwege und neurotische Kunstgriffe, sekundäre Leitlinien, die aus dem übertriebenen männlichen Protest erwachsen. Die Frage nach der konstitutionellen Grundlage der Perversionen ist ganz irrelevant, da die sichernde, ihr Material tendenziös wählende Neurose an die harmlosesten Beziehungen anknüpfen kann, ihnen gleichzeitig Masse und Geltung verleiht, die ins Ungemessene gehen können, soweit als die Neurose es braucht, indem sie dieselben aufpeitscht und ihnen die höchsten Werte verleiht.


  1. Moll hat die häufige Verbindung von Homosexualität und Exhibitionismus mit grossem Scharfblick hervorgehoben. Unsere Darlegung weist den inneren Zusammenhang nach. Beide Perversionsneigungen sind Ausdrucksformen des männlichen Protestes.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/116&oldid=- (Version vom 31.7.2018)