schlaflos mit Gedanken an ihn und schwur es sich zu, nur diesen oder keinen zum Manne zu nehmen. Damit drückte sie aber deutlich aus, dass sie keinen nehmen werde, denn dieser Eine war nach aller menschlichen Voraussicht ihr für immer verloren. So war sie schliesslich durch diverse Kunstgriffe ihrer Neurose wieder zu ihrer alten Leitlinie zurückgekehrt, hatte ein fiktives Ideal gewonnen, die weibliche Rolle aber bis zur Zeit ihrer Behandlung zurückgewiesen.
Im Falle der psychotherapeutischen Behandlung ist ein besonderes Augenmerk darauf zu richten, dass man nicht selbst das Opfer der blind arbeitenden Entwertungstendenz des Patienten werde, dessen Krankheitszustand regelmässig dazu benützt wird, den Psychotherapeuten um seine Geltung zu bringen. Der Patient kann dies in seinen gewohnten Bahnen, nur schärfer nuancierend, indem er Symptome verstärkt, neu auftauchen lässt, gespannte Beziehungen, häufig auch Liebes- und Freundschaftssituationen herzustellen versucht, stets aber mit der durch sein neurotisches Ziel, den männlichen Protest, geleiteten Absicht, des Arztes Herr zu werden, ihn herabzusetzen, in eine „weibliche“ Rolle zu bringen, seine Geltung zu vernichten. Die taktischen und pädagogischen Kunstgriffe, die man nötig hat, diesen Kampf des Patienten gegen den Arzt abzuschwächen, verständlich zu machen, um daran das ganze neurotische Verhalten des Patienten in seinem übrigen Leben zu demonstrieren, werden zum Hauptfaktor der Heilung. Man unterschätze aber den stillen Protest des Nervösen nicht, erwarte ihn bis zum Ende der Behandlung, insbesondere aber gegen Ende, hebe ihn mit ruhiger, objektiver Haltung hervor, als die selbstverständliche Aggression des Patienten, die identisch ist mit seiner Neurose, indem sie die nervösen Bereitschaften und Charakterzüge schafft. Über Freuds Hypothese von der Liebesübertragung soll später noch gesprochen werden. Sie ist nichts anderes als ein Kunstgriff des Patienten, um dem Arzt die sachliche Überlegenheit zu rauben. Auch Bezzola und andere haben die Umwege geschildert, auf denen nervöse Patienten den Arzt verkleinern wollen. Immer ist es die männliche Leitlinie, die dabei zum Vorschein kommt und dem Patienten die Überlegenheit sichern soll. Die naheliegendste Art, seinen Aggressionstrieb zu betätigen, findet der Nervöse stets im Festhalten an seinen Symptomen, weil diese selbst einen Teil seines Aggressionstriebes darstellen. Ein Ausschnitt aus der Krankengeschichte einer Patientin kurz vor Beendigung der Behandlung zeigt in der Art eines feindlichen Vorstosses diese gegen den Arzt gerichtete Entwertung als eine der psychischen Bereitschaften ihres männlichen Protestes. Die Patientin stand wegen Angstzuständen und nächtlichen Aufschreiens in Behandlung, war virgo und zählte 36 Jahre. Ich will die Aufrollung dieses neurotischen Bildes an folgendem Traum beginnen:
„Ich liege zu Ihren Füssen und greife mit der Hand nach oben, nach dem Stoff ihres seidenen Kleides. Sie machen eine lascive Geberde. Darauf sage ich lächelnd: Sie sind auch nicht besser als die anderen Männer! Nickend bestätigen Sie es“.
Wer in Anlehnung an Freuds Traumdeutung das sexuelle Wunschmotiv in den Vordergrund stellte, wird um eine Deutung nicht verlegen sein; die Forderung nach einer sexuellen Grundlage des Traumes wäre nicht allzuschwer zu erfüllen. Auch könnte man sich leicht die Genugtuung verschaffen, wie die Patientin es vorher schon getan, aus
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/110&oldid=- (Version vom 31.7.2018)