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Seite:AdlerNervoes1912.djvu/105

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usw. festgehalten wird. Allmählich gestaltet die Psyche aus diesen vorbereiteten psychischen Geberden, mit denen das Kind auf das Gefühl der Herabsetzung antwortet, psychische Bereitschaften, die in der Neurose das Symptomenbild gemäss einer Richtungslinie gestalten: handle so, als ob du dir durch einen dieser Mängel, durch eines dieser Gebrechen die Sicherheit, das Gefühl der Überlegenheit verschaffen müsstest. Der Unterschied von der Simulation besteht oft nur darin, dass nicht erst in jedem Falle die Überlegung das Phänomen hervorruft, sondern dass die fertige Symptombereitschaft als Sicherung gegen die Befürchtung der Herabsetzung dem ehernen Bestand des Gedächtnisses einverleibt wird, etwa wie die Fingerfertigkeit eines Virtuosen stets bereit ist, auf entsprechende Anforderungen zu reagieren. Das gesamte Heer der neurotischen Symptome, Erröten, Kopfschmerz, Migräne, Ohnmacht, Schmerzen, Tremor, Depression, Exaltation etc., lassen sich auf diese bereitgestellten psychischen Attituden zurückführen.

Eine der Tatsachen, deren Feststellung ich meiner Betrachtungsweise zu verdanken habe, betrifft das mehr weniger bewusste Minderwertigkeitsgefühl aller Mädchen und Frauen, das ihnen durch die „Weiblichkeit“ gegenüber dem Manne vermittelt wird. Ihr Seelenleben wird dadurch so sehr alteriert, dass sie stets Züge des „männlichen Protestes“ aufweisen und zwar meistens in der Form des Umweges über scheinbar weibliche, minderwertige Züge, wie sie in der vorigen Gruppe geschildet wurden. Erziehung sowie die nötigen Vorbereitungen für die Zukunft zwingen sie, ihre Überlegenheit, ihren „männlichen Protest“ auf Schleichwegen resignierend meist, zum Ausdruck zu bringen. Immerhin sind die Züge von „Emotionalität“ (Heymans) deutlich genug, Herrschsucht, Geiz, Neid, Gefallsucht, Neigung zur Grausamkeit usw. fallen so häufig in die Augen, dass man sie leicht entlarven kann als kompensatorische männliche Züge, nach einer männlichen Richtungslinie geordnet. Parkes Weber (Lancet 1911) hat nach mir in dieser Art der Sicherung vor Herabsetzung die Grundlage hysterischer Phänomene gefunden.

Auch die Verbrechensbereitschaft ist als Vorstoss des männlichen Protestes bei Personen zu verstehen, deren kompensierendes Ideal eine fiktive Richtungslinie erzwingt, bei der Leben, Gesundheit, Güter des Nächsten entwertet werden. Im Falle erhöhter Unsicherheit, bei Entbehrungen, Herabsetzungen, drohender Einbusse des Persönlichkeitsgefühls, ebenso bei angestrengten Versuchen „oben“ zu sein, ihre Überlegenheit zu sichern, werden sich solche Personen, deren Minderwertigkeitsgefühl sich in der Affektbereitschaft eine Kompensation gesucht hat, in prinzipieller Verfolgung ihrer Richtungslinie, durch abstrahierendes Vorgehen gegenüber der Realität, ihrem Persönlichkeitsideal durch ein Verbrechen zu nähern suchen. Dr. A. Jassny hat diesen Mechanismus, der am deutlichsten bei Affektverbrechen, Gewohnheitsverbrechen und Fahrlässigkeit hervortritt, bei verbrecherischen Frauen im Gross' Archiv f. Kriminalanthropologie 1911 vortrefflich auseinandergesetzt.

Die überragende Bedeutung der Liebesbeziehung im menschlichen Leben bringt es mit sich, dass sich die neurotische Gier, alles haben zu wollen, regelmässig in das Verhältnis von Mann und Frau einmengt und dort eine störende Tendenz entfaltet, indem sie zwingt,

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/105&oldid=- (Version vom 31.7.2018)