Andreas Ulrich Mayer, Gerard van Swieten: Abhandlung des Daseyns der Gespenster, nebst einem Anhange vom Vampyrismus | |
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Eine Geschichte nenne ich eine Reihe der Begebenheiten. Eine jede Geschichte hat einen Urheber, dem selbe begegnet, und einen Zeugen, der selbe erzählet, welcher manchmal der Urheber selbst ist. Da aber der Urheber und der Zeuge der Geschichten Menschen sind, und bei diesen die Unwahrheit theils aus Mangel der Erkänntniß, theils aus Mangel des Willens entstehet; so müssen sich die Eigenschaften, welche das Ansehen eines Urhebers der Geschichte ausmachen, auf zwey Stücke zusammen ziehen. Erstlich auf den Verstand, den er beim Anschauen der Sache und Erzählung gebraucht: zweytens auf die Wahrhaftigkeit. Es muß also dem Urheber weder die nöthige Aufmerksamkeit und Einsicht, noch der Verstand und Willen, die Wahrheit zu entdecken, mangeln.
Man sage uns aber, wie ist es möglich, daß ein Mensch bei Erblickung eines Gespenstes Aufmerksamkeit, Einsicht und Verstand behalten könne? Wir wollen den allerverständigsten Mann nehmen, es soll ihm aber ein Gespenst erscheinen. Er erschrickt, der kalte Todesschweiß läuft ihm über alle Glieder, er zittert, und fürchtet sich. Wie ist es nun möglich in dergleichen Fällen einen freien Gebrauch seines Verstandes, und die nöthige Aufmersamkeit mitten unter solchen heftig anhaltenden Leidenschaften zu behalten? Und wie soll er Ueberlegungen und Untersuchungen machen können, da ihn die Aufmerksamkeit verläßt, der Verstand weichet, und die Gründe fehlen, wodurch er seinen Irrthum erkennen könnte? Saget man, daß dem ungeachtet bei so verwirrten Umständen dennoch möglich seye, äusserliche Empfindungen zu haben, welche eben diesen
Andreas Ulrich Mayer, Gerard van Swieten: Abhandlung des Daseyns der Gespenster, nebst einem Anhange vom Vampyrismus. , Augsburg 1768, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Abhandlung_des_Daseyns_der_Gespenster.djvu/064&oldid=- (Version vom 12.12.2020)