Zum Inhalt springen

Seite:Über die Verfassung des deutschen Reiches.djvu/40

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

abführt. Freilich sieht man hierbei nur auf den faktischen Zustand. Denn während manche behaupten, sie müßten rechtlich ans Reichsärar steuern, während sie faktisch der landesherrlichen Schatzkammer Abgaben zahlen, wird anderen ihr Recht, direct ans Reich die Steuern abzuführen, das sie faktisch ausüben, bestritten; je nachdem der eine ein Interesse daran hat, zu den Reichsständen gezählt zu werden, oder der andere einen als reichsunmittelbar betrachteten Stand thatsächlich davon auszuschließen wünscht. Auch giebt es keine Reichsmatrikel, in der kein Stand zu viel oder zu wenig aufgeführt wäre, und keine, gegen die nicht Einwände erhoben wären, wenn man auch gewöhnlich die Matrikeln von 1551, 1556 und 1566 für authentisch ansieht.[1] Meiner Ansicht nach sind aber diese alten Matrikeln, welche viele Reichsstände aufführen, die seitdem längst nicht mehr auf dem Reichstage vertreten sind, nur Verzeichnisse der Stände, die zur Zeit ihrer Feststellung auf den Reichstagen erschienen waren und keine öffentlichen Urkunden, aus denen ein rechtlich unzweifelhafter Beweis für die Reichsstandschaft zu führen wäre. Schon aus der Verschiedenheit der Matrikeln unter sich geht ja hervor, daß früher überhaupt die Zahl der Reichsstände nicht ein für allemal bestimmt war; sondern daß den Reichstag besuchte, wer immer durch seine Macht oder seine persönliche Begabung eine hervorragende Stellung im Reiche einnahm. Später sind dann die Schwächeren, denen ihre Privatverhältnisse nicht länger gestatteten, sich an den öffentlichen Angelegenheiten activ zu betheiligen, allmählich fortgeblieben; andere sind auch durch mächtigere Stände gegen ihren Willen ausgeschlossen, bis endlich die heutige Zahl fixirt ist.

Ich will nun im Folgenden nicht die ganze Matrikel abschreiben; aber um ein Urtheil über die Größe des Reiches zu ermöglichen, wird es doch nöthig sein, die hauptsächlichsten Stände aufzuführen.

§. 3. Das Haus Oesterreich.

Unter den weltlichen Fürsten räumt man dem Hause Oesterreich den ersten Platz ein; nicht sowohl wegen seines Alters, als wegen des Umfanges seiner Lande und weil es seit Jahrhunderten schon den Kaiserthron inne hat. Dies Geschlecht ist durch eine seltene Gunst des Schicksals aus kleinen Anfängen zu einer beneidenswerthen Höhe emporgestiegen.

Rudolph, Graf von Habsburg, der Gründer der österreichischen Macht, beherrschte nur ein kleines, seinem Range angemessenes Gebiet in der Schweiz und den benachbarten Landstrichen, aber er war ein kriegserfahrener Held.[2] Es waren zu jener Zeit fast 20 Jahre hindurch,

  1. Auffallend ist, daß P. hier die Matrikel von 1521 nicht erwähnt. Vgl. darüber Ranke, Geschichte des Zeitalters der Reformation I, 311: „So entstand die Matrikel von 1521, welche dann die allzeit neueste geblieben ist, nach deren Norm das deutsche Reich sich Jahrhunderte lang bewaffnet hat.“ Daß übrigens keine Reichsmatrikel zuverlässig und genau war, bemerkt P. selbst sehr richtig.
  2. In der Ed. posth. sucht P. sichtlich seine Bemerkungen gegen und über das Haus Oesterreich zu mildern und ihnen alles scharfe und verletzende zu nehmen. Demgemäß ist von hier an bis zum Schlusse dieses Paragraphen alles geändert und lautet nun so: Diesen wählten die Kurfürsten, weil sie ihn für befähigt hielten, die während des 20jährigen Interregnums durchaus verwirrten [42] Verhältnisse Deutschlands zu ordnen. In der That traf er für den Staat treffliche Anordnungen, aber er strebte auch mit Glück und Klugheit danach, seine eigene Hausmacht zu befestigen und zu erweitern. Daher verschwägerte er sich mit den ersten Geschlechtern Deutschlands durch ebenso ehrenvolle wie nützliche Familienverbindungen; und zur Gründung seiner Hausmacht bot die Kaiserwürde Gelegenheit genug, da man dem Kaiser, der vacant gewordene Lehen zu vergeben hat, durchaus nicht verübeln darf, wenn er auch seine Familie berücksichtigt. So gab er seinem Sohn Albrecht Oesterreich, Steiermark, Kärnthen, die Windische Mark und einige andere Länder, welche er dem Könige Ottokar von Böhmen, der sie ohne Rechtsgrund usurpirt hatte, entriß. Dazu kamen dann durch Heirathen – denn mit seinen Heirathen hat Oesterreich stets besonderes Glück gehabt – noch viele andere Gebiete. Als nun einmal die Oesterreicher die mächtigsten Fürsten geworden waren, war es nur billig, daß sie sich auch durch einen höheren Titel vor den übrigen Herzogen auszeichneten. Weil nun aber doch das junge österreichische Haus den alten Fürstengeschlechtern nicht gut auf dem Reichstage vorangehen konnte, noch auch ihnen weichen wollte, nahmen die Oesterreicher den ersten Platz unter den geistlichen Fürsten ein, die auf einer eigenen Bank sitzen. Denn von diesen, die meist aus niedrigerem Stande stammend, erst durch ihr Amt Fürsten werden, waren in dieser Beziehung nicht viel Schwierigkeiten zu erwarten. So bekamen außerdem die Erzherzöge von Oesterreich alternirend mit dem Erzbischof von Salzburg das Directorium in dem sogenannten Fürstenrathe. Heute umfassen die Lande des Hauses Habsburg, d. h. das Königreich Böhmen und die eigentlichen österreichischen Lande den größten Theil des südöstlichen Deutschlands. Dazu kommt noch das Königreich Ungarn, das jetzt auch fast als österreichisches Erbland angesehen werden kann, seitdem durch die siegreichen Waffen des Kaisers Leopold der größte Theil dieses Landes den Händen der Ungläubigen entrissen ist.
Empfohlene Zitierweise:
Samuel von Pufendorf: Ueber die Verfassung des deutschen Reiches. Berlin: L. Heimann, 1870, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:%C3%9Cber_die_Verfassung_des_deutschen_Reiches.djvu/40&oldid=- (Version vom 9.12.2016)